Der Maligne Lake Westkanada - Kanada Wohnmobil und Traveland

Der Maligne Lake



Mietwagenreise durch Westkanada


Ein Beitrag zum Textwettbewerb 2015 von SK-Kundin Anja Keddig-Voll



Jasper ist eine Kleinstadt hoch oben in den Rocky Mountains, am nördlichen Ende des Icefields Parkway. Jetzt im Sommer besteht sie hauptsächlich aus Restaurants, Souvenirläden, Touristen und einer imposanten Bergkulisse. Aber im Winter, der hier gut acht Monate dauert, ist Jasper, das spürt man genau, ein verschlafenes Nest, in dem das beschauliche Kleinstadtleben seinen Gang geht. Und rundherum der Jasper Nationalpark mit all seiner Schönheit und Wildheit und all seinen Naturwundern.

Einer unserer Ausflüge hat uns an den Maligne Lake geführt, der unter Kanada-Liebhabern nahezu berühmt ist für seine Schönheit. Der See wirkt eigentlich viel eher wie ein sehr breiter glitzerblauer Fluss, der sich mehr als 22 Kilometer lang zwischen wirklich sehr hohen Bergen hindurch windet.

An seinem Ostufer kann man, wie wir es getan haben, stundenlang zwischen Wasserfläche und Tannenwald entlang spazieren. Am Westufer dagegen, dort wo sich gleich die Berge erheben, soll es abenteuerliche Pfade für geübte Wanderer geben, die sich, bevor sie sich in die Büsche schlagen, erst bei den Parkrangern abmelden sollen. Kehren sie dann nicht am vorgesehenen Tag zurück, kann ein Suchtrupp losgeschickt werden.

Überall auf dem Maligne Lake paddeln Leute in knallbunten Kanus, und in regelmäßigen Abständen zieht mit leisem Wellenrauschen eines der kleinen weiß-blauen Ausflugsschiffe vorbei. Sie sind unterwegs nach Spirit Island, einer kleinen flachen, ganz mit hohen Tannen bestandenen Insel am hinteren Ende des Sees. Wie verwunschen liegt sie inmitten der dunklen Wasserfläche umringt von den schroffen Felsen ewig schneebedeckter Berge.

Für all die vielen Menschen, die Jahr für Jahr an den Maligne Lake pilgern, ist an seinem Nordufer, unweit der Parkplätze, ein Besucherzentrum eingerichtet worden. Ein großes Blockhaus, in dem es natürlich auch ein Restaurant mit Aussichtsterrasse gibt und einen bunt- gefüllten Andenkenladen. Im Eingangsbereich findet sich eine Reihe gerahmter alter Schwarz-Weiß-Fotografien. Still und unscheinbar hängen sie an der Wand. Aber wer sie betrachtet, erkennt plötzlich, dass sie eine unglaublich spannende Geschichte erzählen: Der Maligne Lake wurde im Jahre 1908 von einer Frau entdeckt!

Mary Sharpless wurde 1861 in Philadelphia geboren. Schon ihr Vater hatte weitreichende naturkundliche Interessen und stand als Mitglied wissenschaftlicher Zirkel nicht nur im Austausch mit Gleichgesinnten, sondern kam auch in Kontakt mit bekannten Naturforschern und Entdeckern seiner Zeit. In diesen Kreisen lernte Mary ihren zukünftigen Mann, den Arzt Charles Schäffer kennen, einen begeisterten Botaniker. Die beiden unternahmen viele Reisen, besonders solche auf den gerade erst fertiggestellten Eisenbahnlinien quer durch Kanada; meist als Gäste der luxuriösen Hotels, die die Eisenbahngesellschaft für ihre Reisenden hatte errichten lassen. Aber gelegentlich auch auf geführten Touren direkt durch die Wildnis.

Den einen Teil des Jahres als Arztgattin in der Gesellschaft Philadelphias; in den Sommermonaten als Forschungsassistentin ihres Gatten auf Reisen durch die Rocky Mountains - so sah das Leben Mary Schäffers aus, als im Jahre 1903 innerhalb weniger Monate sowohl ihre Eltern als auch ihr Mann starben und sie fast mittellos zurückließen. Diese außergewöhnliche Frau fasste daraufhin einen außergewöhnlichen Plan ins Auge: Um die Rocky Mountains nicht aufgeben zu müssen, wollte sie ihre bisher gesammelten Erfahrungen gewinnbringend nutzen. Sie suchte Männer wie den Burenkriegsveteran Billy Warren, die ihre Entdeckungstouren durch die Wildnis als Guides führen und ihr alles über das Campen und Reiten beibringen konnten.

Da es zu der damaligen Zeit aber nicht angegangen wäre, sich als Frau allein mit Männern auf den Weg zu machen, schloss sie sich mit anderen abenteuerlustigen Forscherinnen zum Reisen zusammen. Ihre Reiseberichte und Fotos von unterwegs konnte Mary Schäffer, die ja unbekanntes Land erforschte, gut verkaufen. Auch sammelte sie im Auftrag verschiedener Naturforscher alle erreichbaren Informationen über Flora und Fauna.

Jahr für Jahr wagten sich die Frauen weiter in den Norden der Rocky Mountains vor. Für 1907 hatten sie sich ein besonders spektakuläres Ziel gesetzt: Jenseits des Columbia Icefield und des Athabasca River sollte es einen großen See geben. Henry McLeod, ein anderer Pionier der Berge, hatte ihn zwar 1875 auf der Durchreise gesehen, aber das Wissen um seine Lage war seltsamerweise wieder verloren gegangen. Die Gruppe machte sich also auf, diesen See wiederzufinden. Leider war der ersten Expedition im Sommer 1907 kein Glück beschert, und bevor die Entdecker noch weiter in den Norden vordringen konnten, zwangen sie vorzeitig einsetzende Schneefälle zur Umkehr. Aber auf dem Rückweg trafen sie eine Gruppe von Stoney Nakoda Indianern. Darunter Samuel Beaver und seine Familie, die Mary Schäffer schon auf einer früheren Reise gut kennengelernt hatte. Beaver war im Alter von 14 Jahren einmal an dem von den Indianern "Chaba Imne", "Bibersee" genannten See gewesen und konnte tatsächlich noch eine Zeichnung davon anfertigen sowie dessen Lage beschreiben. Im Jahr darauf gelang es Mary Schäffer, den Maligne Lake anhand dieses Planes zu finden.

Und wie es weiter ging? 1911 wurde Mary Schäffer - als Frau, wohlgemerkt - beauftragt, den See offiziell zu kartographieren. Danach kehrte sie gar nicht mehr nach Philadelphia zurück, sondern siedelte sich in Banff inmitten der Berge und des neugegründeten Nationalparks an und heiratete Billy Warren, der sie auf all ihren spannenden Reisen begleitet hatte.