Magische Orte: Cypress Hills und Grasslands

Wie ein Meer aus Gras

Saskatchewan: Fläche: 650.000 Quadratkilometer. Einwohner: 1,1 Millionen. Straßenkilometer: 250.000. Eine Formel für Entdecker, denn in der Weite verlieren sich die Touristen. Meine Entdeckungen: zwei der schönsten Parks in Kanada.

Text: Ole Helmhausen
Fotos: Tourism Saskatchewan und Rainer Schoof




Talkshow-Moderatoren poltern gegen die Regierung, Country-Sänger beschwören Heim und Herd, und Landmaschinenhersteller werben für Mähdrescher. Auf Roadtrips durch Saskatchewan ist das Autoradio unterhaltsam und lehrreich zugleich -gerade für Touristen. Der Fehler der meisten: Sie fahren hier nur durch. Klar, für Reisende mit dem Bild der Rocky Mountains im Kopf scheint die Aussicht auf endlose Weizen- und Roggenfelder unaufgeregt. Und viele werden wohl nie erfahren, wie sehr der Schein trügt. Dabei könnte man es leicht erahnen: Saskatchewan ist fast zweimal so groß wie Deutschland, hat im Vergleich ein größeres überörtliches Wegenetz und dabei nur ein Achtzigstel der Einwohner. Kenner und Jäger unbekannter Destinationen setzen diese Fakten zu einer Formel für stressfreies, authentisches Entdecken in Kanada zusammen. An Bord amerikanischer Mietwagen-Cruiser -mit Kaffeehaltern und viel Platz für alle.

Der Trans Canada Highway gibt einen Vorgeschmack von Weite. Er kommt vom Atlantik und spult sich in 8000 Kilometern bis zum Pazifik ab. Allein in Saskatchewan ist er 700 Kilometer lang. Von der Hauptstadt Regina strebt die berühmte Überlandstraße zunächst so schnurgerade nach Westen, dass man die Hände eine Stunde lang vom Steuer nehmen könnte. Country Music auf allen Kanälen. Keine Ra­ser im Rückspiegel, keine Sonntagsfahrer vor der Haube. Man lehnt sich zurück und genießt das sanfte Gleiten, unterstützt von sechs Zylindern und 200 PS. Am Horizont: der weite Himmel und die Erdkrümmung, die sonst nur vom Schiff aus zu sehen ist und die schon den alten Griechen verriet, dass die Erde rund ist.

Endlose Weite: Wenn das Kanada-Klischee stimmt, dann hier. Auch die ersten Weißen, französische Trapper, hatten so etwas noch nicht gesehen. "Meer aus Gras" nannten sie die Prärie. Und manchmal, wenn Bisonherden in Millionenstärke vorbeizogen, saßen sie tagelang auf Anhöhen fest wie Schiffbrüchige auf einsamen Inseln im Ozean. Siedler kamen erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Sie zogen Zäune, pflügten große Teile der Prärie unter und bauten der Provinz ihre Symbole: Die riesigen Kornspeicher, die "Kathedralen der Prärie".

Kanadas Wilder Westen - zwischen den Cypress Hills und den Big Muddy Badlands ging es früher ebenso rau zu wie südlich der Grenze. Amerikanische Whiskyhändler verkauften Waffen und Fusel an die Indianer und hetzten sie gegeneinander auf. Sitting Bull und tausende seiner Sioux-Krieger, die US-Armee auf den Fersen, fanden hier nach der Schlacht am Little Big Horn Zuflucht. Bis ins frühe 20. Jahrhundert plagten Viehdiebe die Rancher, und in Moose Jaw regierte zur Prohibition die Mafia.

Geblieben sind knorrige, rechtschaffene Menschen, die vor dem Essen beten und zum Abschied "God bless you" sagen. Ottawa, die Bundeshauptstadt, liegt auf einem anderen Stern. "Die Verfassung ist ein Witz", sagt Scott Reesor, während er Salzblöcke für seine Rinder von der Ladefläche seines Pickup wuchtet. Seit hundert Jahren besitzt seine Familie Weideland an der Nordseite der Cypress Hills. Seit 1998 führt die Reesor Ranch das Wörtchen "Historic" im Namen und empfängt Touristen. Mit denen reitet Scott in den Sonnenuntergang oder treibt Rinder zusammen. "Die in Ottawa interessieren sich nicht für uns", knurrt er und macht die Ladeklappe wieder zu. "Wir sollten unseren eigenen Laden aufmachen."



Abends gibt sich der Rancher versöhnlicher. Umgeben von fünf Generationen Reesors, die von den Wänden auf ihn herabblicken, erzählt er von schlauen Koyoten und Unwettern, die die Hügeltäler über­­schwemmen und ganze Rinderherden ertränken können. "Zeit für ein Gedicht", sagt seine Frau Theresa. Scott ist ein bekannter Cowboy Poet. Er faltet die Hände über dem Bauch, und mit leiser Stimme trägt er sein Gedicht vor. Es handelt vom einfachen Leben in der Natur, von frischem Apfelkuchen, saftigen Steaks und dem Glück, die Kinder auf dem Hof spielen zu sehen. Draußen auf der Koppel wiehert eines der Pferde. Koyoten? Tochter Leann greift zum Gewehr neben der Tür und geht nachschauen.

Von den bis zu 1465 Meter hohen Cypress Hills aus sieht man Wolkenschatten über das Land segeln und Staubstraßen am Horizont verschwinden. Im Fort Walsh National Historic Park, wo palisadenbewehrte Repliken an die amerikanischen Whiskyhändler erinnern, die 1873 hier über hundert Assiniboine-Indianer massakrierten, freut sich ein holländisches Pärchen darüber, weit und breit die einzigen Touristen zu sein. Weiter östlich schneidet das anderthalb Kilometer breite Frenchman River Valley mehrere hundert Meter tief durch das Weideland. In Eastend, einem Nest mit "Jack´s Café", "Ralph´s Auto" und "Heather´s Flowers", fand man 1994 das Skelett eines T-Rex. Flugs wurde ein millionenteures Besucherzentrum eröffnet. Der erwartete Besucheransturm blieb jedoch aus, und so setzt einem das örtliche Tourismusbüro fast ungefragt persönliche Guides auf den Beifahrersitz, um sicher zu sein, dass man die Aussichtspunkte über das Tal auch wirklich findet.

Abgeschaltet hat man längst. Handy und Autoradio kommen nicht mehr durch. Gegenverkehr, Shopping Malls, McDonald's - Fehlanzeige. Nur noch wettergegerbte Menschen in karierten Wolljacken und einfache Häuschen in Vinylverschalung. Die Siedlungen sind Häuserhaufen an breiten Main Streets mit den typischen Läden für Hochzeits­­kleider, Heimwerkerbedarf, Särge und Blumenkränze - unsentimentale Begleiter von der Wiege bis zur Bahre. Den Ortsrand bewacht der unvermeidliche Getreidespeicher. Nied­rige Lebenshaltungskosten, schwind­süchtige Siedlungen - der harten Realität in Süd-Saskatchewan begegnet man allenthalben. Viele Orte hier, sagt der Guide in Eastend, würden von stadtmüden Zuwanderern aus Vancouver und Toronto vor dem Exitus gerettet. Die Tatsache, dass man hier Heim und Auto nicht abschließen muss und frische Luft und null Kriminalität Gratiszugaben sind, zieht vor allem Rentner und junge Familien an.

Selbst einer der wohl schönsten Nationalparks Kanadas ist eigentlich immer noch ein Geheimtipp. Der Grasslands National Park schützt 450 Quadratkilometer ursprüngliches Grasland ­- das letzte Stück unberührter Prärie in Nordamerika. So wie vor den Toren des Weilers Val-Marie sah es einst überall im mittleren Westen aus. Das Land war ein einziges Meer aus Gras!

Der Grasslands National Park ist der immer noch beeindruckende Rest dieses grün-gelben, wogenden Meeres. Er besteht aus zwei etwa gleich großen, räumlich voneinander getrennten Teilen. Der "West Block" ist überwiegend mesaähnliches Hochland, das vom Frenchman River Valley bis zu 200 Meter tief durchschnitten wird. Die Gletscher der letzten Eiszeit haben hier eine Landschaft aus sanften Hügeln und grasbedeckten Tälern, den "Coulées", hinterlassen. Der "East Block" mit den Killdeer Badlands ist rauer. Seine Buttes, Hoodoos und erodierte Sandsteinformationen sind ein Produkt der letzten Eiszeit. Extreme Klimaschwankungen haben eine hochspezialisierte Flora und Fauna hervorgebracht. Dutzende abgehärteter Wildgrasarten gedeihen hier, Kakteen und Salbeibüsche sorgen für Halbwüstencharakter.

Im Jahr 1989 wurde der Park gegründet und 2001 offiziell in die Parks-Canada-Familie aufgenommen. Doch der erwartete Besucheransturm blieb aus. Nur zehn­tausend Besucher pro Jahr registriert die im 100-Seelen-Nest Val-Marie am Rand des West Block angesiedelte Parkverwaltung. Verantwortlich dafür mag die iso­­lier­te Lage sein. Bis nach Calgary sind es etwa 700 Kilometer, 300 bis nach Regina. Damit liegt der Park abseits der Touristenströme. Ein anderer Grund ist die große Menschenleere. Nicht jeder kann sich mit ihr anfreunden.

Es stimmt - die Prärie ist überwältigend in ihrer Einsamkeit. Einen Vorgeschmack davon bekommen wir, als wir mit dem Au­to von Val-Marie auf der einzigen Piste des Parks tief in das Frenchman River Valley vorstoßen. Gespräche verstummen angesichts der einsamen Weite. Aus­gewiesene Wanderwege, in anderen Nationalparks verlässliche Nabelschnüre zwischen Zivilisation und Wildnis, gibt es hier kaum. Was der freundliche Ranger im Besucherzentrum "Trails" nannte, sind von Proghorn-Antilopen ins Gras getretene Wildwechsel, "Game Trails".

Also - querfeldein marschieren! Mitten hinein in die herrlich pfadlose Weite. Für uns Stadtmenschen klingt das wie Musik. Sobald wir jedoch die Piste verlassen und, Zelt und Verpflegung huckepack, Richtung Endlosigkeit stapfen, ist zunächst einmal alles anders. Denn schon nach 100 Metern mischt sich Beklommenheit in die Euphorie. Kein Baum wächst hier, an dem sich das Auge festhalten könnte. Der Blick wandert über kniehohes, sich im Wind wiegendes Präriegras und verliert sich am Horizont. Ob dieser zehn oder hundert Kilometer weit weg liegt, läßt sich nicht sagen. Nur die Entfernung zu den eigenen Füßen ist verläßlich messbar. Öfter als nötig schielt man über die Schulter zum Wagen zurück, dem letzten Bindeglied zum Rest der Welt. Als dieser endgültig im Gras verschwindet, fühlen wir uns so allein wie auf dem Mond. Es dauert und ist dann umso intensiver, wenn die Beklommenheit dem puren Genuss weicht.

Adler kreisen am Himmel, Koyoten schnüren durch das kniehohe Gras. Große ovale Mulden allerorten erinnern an die einst zu Millionen durchziehenden Büffel: In den sogenannten "Buffalos Wallows" fläzten sich die Fleischberge zwecks Körperpflege. An blank gescheuerten Felsbrocken, den "Rubbing Stones", massierten sie sich die mü­den Flanken. Und auch ihre Jäger haben steinerne Zeugnisse hinterlassen: Vorzugsweise auf Kuppen mit Rundumblick legten die prähistorischen Ureinwohner für ihre Riten die sogenannten "Medicine Wheels" an, zu Kreisen angeordnete Steinreihen.

Wie ein Meer aus Gras. So weit das Auge reicht. Zuerst schlagen wir unser Zelt auf. Mindestens einen Kilometer von der Piste entfernt soll es stehen, war die Bitte der Verwaltung. Eine Antilope schaut zu, wie wir uns häuslich niederlassen, bald darauf noch eine und noch eine. Unseren Aufbruch zum Frenchman River Valley verfolgt ein ganzes Rudel. Als wir die sofakissenähnlichen Hänge ins Timmons Coulée hinabklettern, folgen uns die Tiere oben auf der Ebene. Ein besonderer Moment.

Und nicht die einzige Begegnung. Im Police Coulée, wo wir einem mäandernden Creek nach Norden folgen, schrecken wir einen Pronghorn-Bock auf, der zwei Meter vor uns im hohen Ufergras gedöst hatte. Auf der gegenüberliegenden Seite kraxeln wir einen erodierten Hang zur Mesa hinauf. Einen Trail oder zumindest Spuren anderer Hiker gibt es nicht. Der Blick - er ist einfach überwältigend! Der Himmel ist ein konturloser Ozean, wir sind mikroskopisch klein. Im Westen ragt 70 Mile Butte auf, der alle anderen überragende Tafelberg. Der einzige Blickfang im Osten ist ein von dunkelgrüner Vegetation umzingeltes Wasserloch. So flach und weit ist das Land von hier oben, dass wir uns wie Ausrufezeichen fühlen, die diese Flachheit noch hervorheben.

Wir marschieren den Timbergulch Coulée hinab zum Frenchman River Valley. Dabei folgen wir nun gezielt den Wildwechseln, denn wir haben bemerkt, dass diese umsichtig Umwege um ausgedehnte Kakteenfelder machen. Im Frenchman River Valley empfangen uns Präriehunde mit einem schrillen Pfeifkonzert, als wir mitten durch ihre Kolonie wandern. Ein fußballfeldgroßes, von ihren halbmeterhohen Burgen übersätes Areal. Inzwischen haben wir zwölf Kilometer in den Knochen. Für den Rückweg zum Zelt nehmen wir die Schotterpiste, die um die Präriehunden herumkurvt. Die Nacht ist klar. Und der Sternenhimmel spannt sich bis zum Horizont.

Am nächsten Morgen haben wir wieder Gesellschaft. Als ob die Antilopen wissen wollen, wie wir geschlafen ha­ben. Ach, man könnte sich dran gewöhnen. An diese einfache, stille Art der Interaktion mit Fauna und Flora. Da­ran, dass man das Gefühl für die Distanzen verliert. Und das Gefühl für die Zeit. Für unsere getaktete Zeit, meine ich. Denn ein besonderes Gefühl für den Morgen und für den Abend entwickelt man unter diesem einzigartigen Himmel unweigerlich. Ein Himmel, der endlos und zugleich in ständiger Bewegung ist. "The Land of the Living Skies" - mir wird klar, warum die Bewohner von Saskatchewan ihrer Provinz diesen Namen gaben.

Und irgendwie gewöhnt man sich auch an die Weite. Sie beruhigt und wird Bestandteil des Selbstverständnisses. Mir fällt der alte Witz ein, der überall in Saskatchewan erzählt wird: Den Hund, der von zu Hause weggelaufen ist, sieht man noch drei Tage lang vom Küchenfenster aus. Ja, ein Witz, aber es schwingt auch ein bisschen Stolz auf die Besonderheit des Landes mit. Und ich muss gedanklich zustimmen: Wer auf diesem Roadtrip durch Saskatchewan bereits die Wölbung des Horizonts gesehen hat, findet das völlig normal. Und genießt es.