Westkanada im Winter Westkanada - Kanada PKW-Reisen, Winterreisen und Winter Wonderland

Hommage an den Winter - Europäer und ihr Gefühl für Schnee
Text zum Textwettbewerb 2018
Autor: Franz-Josef Segin


Heiligabend 1969 – Kurz nach dem Mittagessen ist es soweit. „A dream comes true“ – nur englische Gedanken habe ich noch nicht. Ich hoffe in diesem Moment, dass der kindliche Traum von einer weißen Weihnacht endlich mal wieder wahr wird. Und ich habe Glück. Es schneit Stunden. Nach der Bescherung liegen mehr als 40 cm herrlichsten Pulverschnees. Der Weg kurz vor Mitternacht zur Christmette wird zu einem unvergänglichen Erlebnis: Pulverschnee kniehoch, fluffig wie Powder – sorry, schon wieder englisch, unter den Füßen bei jedem Schritt dieses sanft flauschige, gar nicht knackige Geräusch, das jeder einmal kennenlernen sollte.

Kurz vor Weihnachten 2017 – Ich sitze im Flieger von Amsterdam nach Calgary. Zum ersten Mal geht es im Winter nach Canada. Was mich erwartet, weiß ich. Schließlich lebt meine Tochter seit vielen Jahren dort und hat uns vorgewarnt: Schnee, Kälte, Eis. Viel hat sie uns davon erzählt. Wir sind also vorbereitet, aber auf die Idee, bald an meine Erlebnisse vor fast 50 Jahren erinnert zu werden, darauf wäre ich nie gekommen. Aber ich hätte mir auch nicht vorstellen können, dass das, was mich in den nächsten 16 Tagen erwarten wird, nur ein Abklatsch von dem ist, was ich damals als einen kindlichen Traum bezeichnet hätte.

Touch down! Endlich, wir sind Calgary angekommen. Dass hier Schnee liegt, ließ sich bereits aus der Luft nicht verheimlichen. Aber das Ausmaß, das wird uns erst klar, als wir mit unserem Mietwagen aus dem Parkhaus fahren. Hier hat es nicht einfach nur mal geschneit, hier liegt Schnee, seit Wochen, immer wieder neuer, ohne dass der alte verschwindet. Schnee, der nicht nur in den Vorgärten liegt, sondern auch auf Hausdächern, Gehwegen und Highways. Kein Schnee, der durch regelmäßige Wärmeperioden matschig und dreckig wird, und vor allem kein Schnee, der seine Faszination Eiskristall für Eiskristall verloren hat.

Mehr als 300 km Autofahrt liegen vor mir. Mit einem kleinen SUV geht es mit vier Passagieren durch den Banff und Kootenay Nationalpark an den Columbia River in British Columbia. Die Fahrt ist ungewohnt, ob des doch immer wieder unbekannten Untergrunds und anstrengend. Aber es ist trotz allem ein Traum. Gut, zuhause wäre diese zügige Fahrt nicht möglich gewesen, schließlich drosselt der Deutsche das Tempo, bevor die erste Schneeflocke den Boden berührt hat. Aber – und das stelle ich später auch noch fest – der gemeine Canadier hat auch seine Schwierigkeiten, sich von Sommer- auf Wintermodus umzustellen.

Skifahren, Snowboarden, Wanderungen mit Schneeschuhen oder Touren mit dem Schneemobil, oder doch lieber eine Hundeschlittenfahrt? Das sind sicherlich immer noch nicht alle Fortbewegungsarten, die wir hier in Canada ausprobieren könnten. Vieles ist möglich. Wir entschließen uns gegen alle. Während die Jugend mit dem Board die Pisten unsicher macht, gehen wir Alten zu Fuß. Schneewanderungen, die ihrem Namen gerecht werden.

Mehrfach werden wir über die riesige Fläche des Windermere Lakes gehen. Das Eis baute sich über Wochen auf. Wie dick es ist? Wir machen uns da keine Sorgen. Schließlich stehen an den unterschiedlichsten Plätzen des Sees große SUVs und Pickups, die uns klar signalisieren, dass bei unseren vielleicht 350 kg Körpergewicht keine Gefahr droht.

Andererseits können wir auch jeden Morgen feststellen, dass hier kein Tauwetter droht. Kein Tag und erst recht keine Nacht, an dem die Luft wärmer wird als 23 Grad Fahrenheit, Pardon, ich meine natürlich minus 5 Grad Celsius. In die andere Richtung sind kaum Grenzen gesetzt. Minus 30 Grad Celsius haben wir einmal tagsüber gesehen – und auch leidlich gefühlt. Wie weit die Temperatur nachts sinkt… keine Ahnung. Dies ist für mich nicht entscheidend, schließlich parkt mein Auto in der Tiefgarage, immer frei von Schnee und die Innentemperatur angenehm im niedrigen zweistelligen Bereich.

Apropos Temperatur: Wer es nicht erlebt hat, wird es nicht verstehen. Aber bei minus 15 Grad und Sonne im langärmeligen T-Shirt vor die Tür zu gehen, in Deutschland ein Graus, hier kein Problem. Das Zauberwort lautet: Trockene Kälte. Während in der Heimat schon bei Plus-Graden im einstelligen Bereich die Kälte durch die Kleidung kriecht, zeigt sich die Kälte in Westkanada von seiner angenehmen, trockenen Seite. Bereits der Schnee, der hier fällt, ist extrem trocken. Das liegt an der Lage British Columbias. Es ist der Part Canadas zwischen Pazifik und dem trockenen Kontinent jenseits der Rocky Mountains, der den viel gerühmten Champagner-Powder hervorbringt.

Nicht verheimlichen möchte ich aber auch die Tatsache, dass auch trockene Kälte ihre Grenzen bei mir und vielen anderen hat. Diese Erfahrung mache ich dann am 1. Weihnachtstag. Es gilt, einen Weihnachtsgutschein einzulösen: eine 45-minütige Pferde-Kutschfahrt am Lake Louise. Allen Beteiligten – Pferde, Kutscher, Fahrgäste – steht die Kälte bereits beim Einsteigen, noch mehr aber beim Aussteigen ins Gesicht geschnitten. Da helfen auch keine Decken zusätzlich mehr. Jetzt dringt die Kälte durch jede Öffnung, jede Naht in der Garderobe. Wehe dem, der dann auch noch fotografieren will/muss. Die Hände sind binnen weniger Sekunden bis auf die Knochen eingefroren, zumindest bei mir. Ansonsten: Ein Erlebnis, dass wir nicht missen wollen. Eine entsprechende Hundeschlittenfahrt war eigentlich bei diesem Trip auch eingeplant, musste aber dann auf die nächste Winterreise nach Canada verschoben werden.

Dafür fahren wir zwei Tage nach Calgary. Auch hier, jenseits der Rockies, ist es nicht wärmer. Höhepunkt der Tour ist ein Hockeyspiel der NHL: Calgary Flames gegen Edmonton Oilers. Es ist mein erstes Spiel überhaupt, das ich live miterlebe. Bei mir bleibt der Eindruck hängen, dass es auch Sport ist, vor allem aber ein Familienausflug, ein Event, eine Show, ein Treffen mit Freunden. Und es ist ein riesiger Werbe-Marktplatz. Kein Sitzplatz, kein Ticket, keine Eisfläche, keine Minute ohne Werbung. Das Spiel ist nicht berauschend, zumindest aus meiner Sicht. Aber vielleicht ist der Blick getrübt durch meinen bisherigen Eishockey-TV-Konsum. Ein Erlebnis ist das Ganze aber trotzdem. Ich werde später viele Treffen, die mich um diese Erfahrung beneiden.

Ob NHL oder NBL – ohne TV geht es auch in Canada nicht. Es gibt kaum ein Restaurant, eine Bar, einen Pub ohne Sportübertragung. Selbst in die kleinsten Räumlichkeiten passen 10, 15 oder sogar 20 große Flatscreens an die Wand. Wichtig ist, dass Du, egal auf welchem Stuhl, an welchem Tisch Du sitzt, einen Blick aufs Spiel werfen kannst.

Heiligabend, die Weihnachtstage, Silvester, Neujahr – in Canada geht es anders zu als bei uns. Am 24. und 31. schließen die letzten Supermärkte erst um 19 Uhr. Die Abende werden im Familien- oder Freundeskreis gefeiert. Im Mittelpunkt steht der Turkey. Klingt einfach, ist es aber nicht. Wir haben uns den kleinsten geleistet… und der reicht dann für rund 20 Personen. Wir sind aber nur zu sechst. Drei Tage Turkey, nicht schlecht, weil uns jedes Mal etwas anderes einfällt, wo und wie wir die Reste verwerten können.

Heiligabend bekommt jeder Anwesende nur ein Geschenk, verpackt in einer großen Socke. Dabei handelt es sich um ein Kleidungsstück, das am Weihnachtsmorgen beim Frühstück bis mindestens nach der Bescherung getragen werden muss. Diesen Brauch haben viele Familien beibehalten – auch heute noch. Gegründet haben diese Tradition praktisch veranlagte Eltern, die ihren Kindern an Heiligabend neue Schlafanzüge schenkten, die gleich getragen werden konnten. Auf diesem Wege blieb für Eltern und Kinder selbst auch der nächste Tag vollkommen stressfrei.

Auch Silvester läuft etwas anders als hierzulande. Das Silvesterfeuerwerk macht seinem Namen alle Ehre. Während es bei uns erst zum Start des neuen Jahres abgefeuert wird, gehen in Canada die Feuerwerkskörper wirklich am Silvesterabend in die Luft. Bereits abends um neun oder zehn Uhr geht es los. Der Grund: Auch die Kinder sollen etwas vom Jahreswechsel haben. Keine schlechte Idee.

Canada tickt eben anders als Europa. Auch und noch mehr im Winter. Die Schönheit des Sommers bleibt erhalten, so manche Konturen verschwinden, aber unter einer dicken Schneedecke tauchen ganz neue Formen auf. Canada im Winter ist eine andere Welt: die Taktung ist noch ruhiger, die Natur leiser, die Luft klarer. Viele Wildtiere liegen im Winterschlaf, das Tageslicht ist knapp.

Wer Canada und seine Menschen wirklich kennenlernen will, muss beide Jahreszeiten erlebt haben. Zu groß sind die Unterschiede. Besonders deutlich habe ich das zuhause erlebt, als ich nahezu identische Fotos nebeneinander gelegt. Emerald Lake habe ich jetzt nur unter der Schneedecke erlebt, kenne aber die typischen Bildband-Fotos vom See. Nicht das eine oder das andere ist das Wahre. Beides hat seinen großen optischen Reiz, aber anders. Gleiches könnte ich über den Columbia River sagen, über die Wälder, die Highways, die ich in zwei Versionen gesehen habe. Nicht vergessen möchte ich hier Banff, Lake Louise oder das Fairmont Hotel Banff Springs. Und über den Highway 93 von Radium durch den Kootenay Nationalpark nach Banff, den ich bereits früher im Frühjahr und im Herbst mehrfach durchfahren konnte, habe ich jetzt noch gar nicht gesprochen.

Ich habe meine Story eine Hommage an den Winter genannt und Canada gemeint, weil ich glaube durch die geografische Lage und die klimatischen Voraussetzungen ist die Westküste Canadas für einen echten Bilderbuch-Winter prädestiniert. Und auch bei einer weiteren Erderwärmung wird diese Konstellation noch einige Zeit bestehen bleiben. Zeit, dieses Erlebnis zu wagen, auch wenn bisher die kalte Zeit nie ein Thema war. Die Neugier, Schönes zu erkennen, sollte größer sein als die Angst vor der Kälte. Und wenn das alles noch nicht überzeugt, einfach mach wieder Franz Kafka lesen: „Jeder, der sich die Fähigkeit erhält, Schönes zu erkennen, wird nie alt werden.“