Geschichte trifft Wildnis-Adrenalin

Auf dem French River

Bevor es in Ontario Straßen gab, waren die Flüsse die Wege. Das von den Ureinwohnern genutzte Netz war so dicht gewoben, dass man mit dem Kanu vom St.-Lorenz-Strom bis vor die Rocky Mountains gelangen konnte. Der French River war damals eine der wichtigsten Verbindungen. Ein paar Tage paddelte ich im Kielwasser der Entdecker und Pelzhändler.
Text: Ole Helmhausen Fotos: Jeff Speed


Die letzten Sekunden
vor dem Kentern sind das Schärfste.


Du weißt, gleich passiert es. Und Du kannst nichts mehr dagegen tun. Absolut nichts. Außer vielleicht noch ein Stoßgebet zum Himmel schicken. In diesem Moment blitzen Bild- und Gesprächsfetzen auf, zeitgleich, noch schneller als in "Lola rennt". Und doch irgendwie langsam genug, um sie nachher abzurufen: Morgens gab's Omelett. Zu Hause stapelt sich die Arbeit. Burt Reynolds hat auch gern gepaddelt. Mensch, die Brille! Heute Abend wolltest Du den Riesling aufmachen. Und über dieser verrückten Bildfolge taucht ein riesengroßes "Sch...!" auf. Wie auf einem Spruchband zieht es an Deinem geistigen Auge vorbei, gezogen von einem zappelnden Männlein, dem berühmten kleinen Mann im Ohr. "Hab's Dir doch gesagt, Du Vollidiot!", kreischt es, "Aber Du kannst ja nicht hören! Dabei hast Du vom Paddeln so viel Ahnung wie eine Kuh vom Rückenschwimmen. Und jetzt ersäufst Du wie eine Ratte. Geschieht Dir recht!"

Kentern ist cool - nachher... Vorher kippt Dich das Kanu aus. Du rechnest mit dem Schlimmsten. Die Felsen unter Wasser werden Dir alle Knochen brechen. Die spitz nach oben ragenden Baumstümpfe werden Dir die Gedärme herausreißen. Das kalte Wasser wird Dich in Sekundenschnelle in einen Eiszapfen verwandeln. Instinktiv alle Poren und anderen Körperöffnungen dicht machend, durchschlägst Du die Wasseroberfläche. Dann kracht der Fluss über Dir zusammen. Das Crazy-Programm im Kopf schaltet sich aus. Fast ist das eine Erlösung. Stattdessen schaltet sich der Discovery Channel ein. Du siehst gelb-braunes Wasser, Luftblasen hüllen Dich ein, es tost und wirbelt. Ein unwirkliches, bedrohlich-schönes Spektakel. Oben ist es hell, unten dunkel. Da willst Du, wenigstens das weißt Du genau, ums Verrecken nicht hin. Also, dem Licht entgegen! Mit aller Kraft, das Paddel in der einen Hand und mit der anderen Wasser schaufelnd. Als Du mit dem Kopf wieder durch die Oberfläche stößt, rauscht und gischtet es. Ein paar Meter flussabwärts ein roter Streifen - das Kanu. Es treibt kieloben, mit dem Kollegen im Schlepptau. Alles noch da, alles halb so wild. Und das Wasser hat beinahe Schwimmbad-Temperatur.
Jeff war früher Ringer und macht auf diesem Trip die Bilder. Norman kommt aus dem nahen Dokis Ojibwa Reserve und ist Jäger, Fischer und Betriebswirt. Alex hat mit Immobilien sein Geld gemacht und zog irgendwann mit Kind und Kegel an den French River, wo er eine alte Lodge auf Vordermann brachte und als "The Lodge at Pine Cove" vermarktet. Toni war Stierkämpfer, Straßenmusiker und soff mit Picasso. Zuletzt war er Raketeningenieur. Bis er zum ersten Mal in ein Kanu stieg und sich für ein paar Tage in die Wildnis absetzte. Danach kündigte er seinen Job, um sich die Hälfte des Jahres auf den Seen und Flüssen in Kanadas Norden herumzutreiben und zum kanadischen Kanu-Guru hoch zu schreiben.

Kanadische Geschichte
durchpaddeln kannst Du nur hier!


Die Gewässer der Provinz Ontario kennt er wie seine Westentasche. Der French River ist sein Lieblingsfluss. "Paddeln kannst Du überall in Kanada", sagt er, als er zum Put-In bei der Pine Cove Lodge kommt. Der Mann ist ein Bulle. Seinen Seesack, den er nach Indianer-Sitte mit Stirnband schleppt, wuchtet er ins Kanu, als habe er nicht 70, sondern vielleicht 27 Lenze auf dem Buckel. "Aber kanadische Geschichte durchpaddeln kannst Du nur hier! Und zwar das spannendste Kapitel!"

Beim Trocknen am Ufer bist Du heilfroh über die blöde Schwimmweste. Und dass Dein Kanu aus Kunststoff ist und einen kräftigen Bums ab kann. Prima auch, dass Du Dich in schnell trocknendes Polyester hüllen konntest. Vor allem aber bist du froh darüber, bloß aus Lust und Laune unterwegs zu sein. Denn vor 200 Jahren wäre der French River für Dich nur eine klitzekleine Etappe auf der Reise nach Westen gewesen. Damals wäre es die Strecke Montréal - Lake Superior und wieder zurück gewesen. Schlappe 4000 Kilometer - und das alles im kurzen kanadischen Sommer.

Du hättest bis zu 18 Stunden am Tag gepaddelt und da­bei eine 40er-Schlagzahl pro Minute hingelegt. Zeit war nämlich Geld damals. Für jeden Tag, den Du früher zurück warst, hätten Deine Bosse, die steinreichen Schotten in Montréal, mit fetten Prämien gewinkt. Unterwegs hätte es nur Bohnen und gepökeltes Fleisch ge­geben. Dein Kanu, ein elf Meter langes Gefährt aus Birkenrinde, hättest Du zusammen mit Deinen Begleitern um Dutzen­de von Stromschnellen herumschleppen müssen. Und dabei hättest Du auch noch bis zu 90 Kilo Gepäck im Kreuz gehabt. Und Deine Bosse, die Frasers, McGills und McTavishs, hätten Dir Deinen Platz im Kanu nicht nur gegeben, weil Du taff und stark wie ein Ochse, sondern bevorzugt weil Du auch Nichtschwimmer warst. Deshalb, das wussten sie, würdest Du gut auf Dich und damit auch auf die Ladung aufpassen. Und wenn trotzdem et­was schief ging, nun gut, Deine schweren Wollklamotten hätten Dein Leiden wohl verkürzt.

Toni grinst. Die "Voyageurs", wie die franko-kanadischen Pelzhändler von einst genannt werden, sind sein Lieblingsthema. Mit zwei Kanus und einem Kajak paddeln wir aus der Wolseley Bay zunächst in den Main Channel. "Diese Kerle vollbrachten guinessbuchreife Leistungen", sagt er, während er sein Paddel durch das dunkle Wasser zieht. Sommer für Sommer. Ihr Ziel: Fort Williams am Westufer des Lake Superior. Dort tauschten sie ihre Handelsware gegen Biberfelle aus dem Norden. Ihr Weg durch die straßenlose Wildnis folgte uralten indianischen Kanurouten. Von Montréal aus ging es zunächst auf dem Ottawa und Mattawa River zum Lake Nippissing. An dessen Westufer fädelten sie in den 120 Kilometer langen French River ein. Der brachte sie zum Lake Huron, und von dort ging es weiter bis zum Westende des Lake Superior. "Seitdem hat sich auf dem French nichts verändert", sagt Toni, "Ihr habt das gleiche Wasser unter dem Kiel und seht die gleiche Wildnis wie sie." Die Karte des French River Provincial Park im Maßstab 1:50000 zeigt einen extrem zerfaserten Fluss, mit einem Einzugsgebiet, das an eine schwedische Schärenlandschaft erinnert. Gewaltige Kräfte haben hier die Granitplatte des kanadischen Schildes gesenkt, gehoben, manchmal auf­­­ge­­rissen und dabei ein Wasserwegsystem mit Hunderten von Inseln, Buchten und Seitenarmen hinterlassen. Auf der Karte sieht es so aus, als gäbe es mehr Wasser als Land.

Heute ist der vier Autostunden nördlich von Toronto fließende French River nur noch ein Geheimtipp bei Kanu-Wanderern. Von 1600 bis 1820 war er jedoch eine der wichtigsten Wasserstraßen Nordamerikas. Wer zu den "Großen Seen" und weiter wollte, musste hier durch. Große Namen - fast wie das "Who's Who" der kanadischen Geschichte. Samuel de Champlain, der Gründer Neu-Frankreichs, kam 1615 hier durch. Ihm folgten, um nur einige zu nennen: Jean Nicollet, der Entdecker des Lake Michigan, Pierre Radisson, der Mitbegründer der Hudson Bay Company, Pater Marquette und Louis Joliet, die von hier aus den Mississippi und Louisiana erreichten, die Vérendryes, die als erste Weiße die Rockies sa­hen, Peter Pond, das erste Bleichgesicht am großen Lake Atha­bas­ca oben in den Northwest Territories und Alexander Mackenzie, der erste Europäer am Pazifik.

Zum Sightseeing hatten die Voyageurs keine Zeit. Wir schon, deswegen sind wir schließlich hier. Dies ist Kanada wie aus dem Bilderbuch. Geräuschlos gleiten wir um Commanda Island herum, eine Felseninsel mit alten Kiefern. Weltvergessen und bildschön. Der alte "Rivière des Francais" ist dieses Jahr zu niedrig, um die Abkürzung über die Little Pine Rapids zu nehmen. Wir gehen an Land und schauen uns an, wie eine Stromschnelle ohne Wasser aussieht. Wasser, Wind und Wetter haben hier eine tiefe Rinne in den Granit gefressen. Am Boden: rundgeschliffenes Geröll, vom French heran geschleppt und abgelagert. Wir sind froh, nicht hier durch zu müssen. "Taucher haben hier Silbermünzen und eine alte französische Muskete gefunden", sagt Toni. Der arme Voyageur damals wirds von seinem Lohn abgezogen bekommen haben. Sein Kanu war gerade schmal genug, um durch die Little Pine Rapids hindurchzuschlüpfen. Die Wände hier scheinen noch widerzuhallen von den Kommandos des "Avant", des Lotsen im Bug. Der musste scharf aufpassen, denn Birkenrindenkanus schlugen schnell leck. Um die Big Pine Rapids etwas später tragen wir die Kanus lieber herum. Alles ausladen, die Kanus, Rucksäcke, Zelte und Fässer mit Lebensmitteln geschultert und an dem tosenden Inferno vorbei gekraxelt. "Ihr seid nicht die Ersten", sagt Toni und zeigt auf den glatten, merkwürdig blanken Granit. Indianer, Waldläufer, Missionare, Voyageurs, Entdecker, sie alle schleppten hier ihre Kanus vorbei. Schwitzten und fluchten genauso wie wir jetzt. An diesem Tag campen wir bei den Double Rapids. "French River Hilton" nennt Alex die Stelle hoch über dem River. Norman hievt acht Zander aus dem Wasser. Nachts scheint das Nordlicht.

Portage.
Ein absolut kanadisches Wort.


Showtime. "This is it", sagt Toni. Die "Blue Chute Rapids". Wir haben das Rauschen schon von ferne gehört und peilen die Lage nun vom Ufer aus. Keine Felsbrocken dicht unter der Oberfläche, keine böse Überraschungen in unübersichtlichen Kurven. Eine gerade, zehn Meter breite Passage mit hohen Granitwänden erwartet uns. Anderthalb Meter Gefälle. Die dadurch vervielfachte Fließgeschwindigkeit und die stehenden Wellen haben ein etwa 50 Meter langes und sechs Meter breites Waschbrett mit anderthalb Meter hohen Rillen aus schäumendem H²O erzeugt. Die Kanus schleppen müs­sen wir trotz­dem nicht. Wir gleiten auf einer tiefblauen, weit über das Waschbrett leckenden Zunge mitten durch das tosende Spektakel, ohne das auch nur ein Spritzer über die Bordwände schlägt. Ein absolut geiles Feeling, von dem wir noch mehr wollen. Unterhalb von Blue Chute laden wir aus und gehen mit unseren Kanus spielen. Die "Big Parisian Rapids" und "Devil's Chute" etwas später sind komplizierter. Wir schleppen alles über Land, was nicht nass werden darf, und paddeln die Schnellen leer. Devil's Chute ist tückisch, die s-förmige Schnelle zwingt zu Tricksereien im Wildwasser. Abends schlagen wir das Lager unweit von Cross Island auf. Diese Stelle inspiriert Alex zum Vergleich mit einem Marriott. Die Geister der bei Cross Island vor 350 Jahren ertrunkenen Jesuiten, die von den Ojibwa-Indianern "Wemitigoozhi" (in etwa: "Die mit Stöcken winken") genannt wurden, weil sie immer mit ihren Kruzifixen herumfuchtelten, lassen uns in dieser Nacht in Ruhe.

Wir verbringen noch einen Tag und eine Nacht auf dem French River. Die Zivilisation ist weit weg. Wir bringen zwei Drittel des Flusses hinter uns und sind verdammt stolz darauf. Am letzten Tag macht uns der vom Lake Superior herüberwehende Westwind zu schaffen. Die Voyageurs, so furchtlos wie abergläubisch, nannten ihn "la Vieille" ("Die Alte"), und brachten ihm vor der Abreise kleine Opfer dar. Wir kommen auf eine Schlagzahl von 45 pro Minute. Zwei Stunden lang, dann gehen wir mit langen Armen an Land. Immerhin, nicht schlecht für uns Pseudo-Voyageurs. Die Echten hätten wahrscheinlich nur müde gelächelt. Sie wären schon längst vor Manitoulin Island im Lake Huron gewesen, bei ihren Ojibwa-Freundinnen. Trotzdem, bei allem Muskelkater: Die Vorstellung, bis zu den Großen Seen und weiter zu paddeln, bleibt faszinierend.

Der erste Weiße, der den French River unter den Kiel nahm, war ein französischer Teenager namens Etienne Brulé. Das war 1610. Er sah als erster Europäer den Lake Superior und wurde von den Huronen adoptiert. Bei seiner Rückkehr, Jahre später, hielt man ihn in Québec für einen Indianer. Gut 200 Jahre später kehrte Nordamerikas fleißigster Land­vermesser, David Thompson, über den French River nach Montréal zurück. Er hatte gut 25 Jahre lang den Westen Kanadas quasi im Alleingang kartografiert. Die Indianer nannten ihn den "Mann, der die Sterne schaut". Thompson sah, was wir auf diesem Trip gesehen haben. Und einen Sternenhimmel, der noch immer bis auf den Fluss reicht.