Süd-Manitoba und Churchill Manitoba - Kanada Zugreise, Tierbeobachtung, Lodges und Natur Aktiv

Süd-Manitoba und Churchill
Rainer Schoof (Chefscout) unterwegs in südlichen Manitoba und in Churchill an Manitobas Hudson Bay
August 2018


Text: Rainer Schoof

Von Bisons, Elchen und riesigen Seen
Roadtrip im Süden Manitobas


Winnipeg, Manitoba. Viele Wege führen in das Herz Kanadas. Zum Beispiel der Trans-Canada-Highway, die berühmte Nr. 1. Oder der "Canadian", die legendäre Zugverbindung von Ost nach West. Am schnellsten und günstigsten geht es natürlich mit den Flügen von Air Canada, die die Präriemetropole ja von allen großen kanadischen Airports direkt anbinden. Toronto, Calgary, Vancouver von überall gibt es einen Direktflug nach Winnipeg. Das macht es einfach Manitoba und seine besonderen Erlebnisse in die eigene Kanadareise einzubinden.

Und so sind wir selbst auf unserer Kanadareise im August frühmorgens hier in Winnipeg gelandet und finden es großartig, den Assiniboine und Red River genau jetzt in den frühen Morgenstunden ganz für uns allein zu haben. "The Forks", so heißt dieser Ort aufgrund des Zusammenflusses der beiden Flüsse mitten in der Stadt. In der Handelsgeschichte Winnipegs spielte dieser Platz eine wichtige Rolle, da die Flüsse wichtige Transportwege darstellten. Eine Handelsstation, die durch den Bau der Eisenbahn sogar noch an Bedeutung gewann. Und heute ist es so etwas wie der gesellschaftliche Herzschlag Winnipegs. Die alten Warehouses haben sich inzwischen in farbenfrohe Lokalmärkte oder stylische Restaurants und Micro-Breweries verwandelt, Musiker treten auf und am Abend tobt hier das Leben. Aber nicht am frühen Morgen. Jetzt und hier sind wir fast allein. Und das passt vor allem meinem Begleiter Tom Reissmann gut. Der Videograf, der mich auch auf dieser Reise begleitet, kann sich bei herrlichem Wetter mit seiner Kamera austoben, ohne jemanden zu stören.

Roadtrip – den südlichen Teil von Manitoba möchten wir näher erkunden. Wir verlassen Winnipeg, das ja von seinen Einwohnern liebevoll "The Peg" genannt wird. Es dauert ein paar Minuten, denn die Stadt ist eine typische Präriestadt. Sie hat Platz. Viel Platz, um sich für die knapp 700.000 Einwohner auszudehnen. Mich beeindruckt immer die ethnische Vielfalt von Winnipeg. Man achte beim Fahren durch die Straßen nur auf die Schilder der Läden, Shops, Bars, Restaurants. Asiatisch, polnisch, arabisch, deutsch, russisch, ukrainisch – die ganze Welt scheint in Winnipeg zuhause zu sein. Und alles so relaxed, vor allem der Verkehr. Es ist kurz nach 10 Uhr und wir rollen auf dem Highway in Richtung Norden. Gerade Prärie-Highways haben für mich ja immer einen ganz besonderen Reiz. Ein Schmankerl für die Psyche, die ganz langsam realisiert, dass die Weite nach vorn, nach hinten, nach rechts und nach links einfach nur grenzenlos ist. Es dauert einen Moment, bis das einsickert. Und es ist immer ein besonderes Gefühl für mich. Eins, in dem ich mich wohl fühle.

Etwa eine Stunde bis zum ersten Stop – Gimli. Ich war noch nie hier – und bin überrascht. Das ist ja richtig schnuckelig hier! Ein richtig gemütliches Strandörtchen. Irgendwie so gar nicht das, was man von der Prärieprovinz erwartet. Ich bin ja schon so einige Male durch Manitoba gereist, aber so einen Ort habe ich hier wirklich noch nie gefunden. Zunächst einmal ist der Ort eine Siedlung überwiegend isländischer Auswanderer. Man sieht es an den Namensschildern: alles "-son" und "-dottir". Und die B&Bs heißen "Gesta-Hus". Aber dann der Sandstrand, bzw. Sandkieselstrand. Er ist über 60 Kilometer lang und bei dem herrlichen Wetter heute komme ich mir fast vor wie an einem Strand in Florida. Surfboards zum Ausleihen, Strandcafés, eine Marina mit Yachten – auch Kajaks und Seadoos kann man ausleihen. Der Wind frischt etwas auf und das Gehirn verdrängt noch schneller die Erinnerung daran, dass der Lake Winnipeg ein See ist. Wellen rollenen an den Strand – ganz ehrlich, das ist doch kein See, das ist ein Meer! Überall gibt es Fish & Chips zu kaufen – natürlich mit dem hier heimischen Pickerel. Das probieren wir natürlich auch – echt lecker! Ja, und ein nettes Hotel gibt es hier in Gimli mit dem Gimli Lakeview Resort auch. Die Zimmer sind ansprechend und vom Sonnendeck des Restaurants aus blickt man direkt auf Strand und Wasser.

Für uns geht es dann noch etwa eine Stunde nach Norden. Ich möchte mir unbedingt den Hecla Provincial Park ansehen. Und natürlich das gleichnamige Resort-Hotel. Der Park liegt auf einer Insel, über die man auf einer Art Dammstraße durch die "Grassy Narrows" gelangt. Rechts und links sieht man immer wieder Pelikane, bevor es in den Inselwald geht. Großartig. Ein herrlicher Laubwald mit vielen Birken bzw. Pappeln – und plötzlich hat man das Gefühl, mitten in der Wildnis zu sein. Wunderschöne Uferstellen, tolle Sand- und Kies-Strände. Leicht zugänglich und teilweise sogar mit Picknicktischen und Feuerstellen. Und kein Mensch hier! Schon in Gimli war mir aufgefallen, wie leer es dort war für einen so attraktiven Ort. Gut, es ist Wochenanfang, aber schließlich mitten im August! Aber es scheint die Regel zu sein. Das Torhäuschen am Parkeingang zum Hecla Grindstone Provincial Park ist auch nicht besetzt. Na, das sollte man mal dem ein oder anderen flüstern, der sich über den stetig wachsenden Andrang in den Nationalparks der kanadischen Rockies ärgert!

Auf dem Weg zum Hecla Lakeview Resort gaukeln die wenigen wie Fischersiedlungen anmutenden Häuser und die hölzernen Leuchttürme meinem Hirn weiter vor hier am Meer zu sein. Genau wie das Resort, das sehr schön auf einer Landspitze im vermeintlichen Ozean liegt. In unmittelbarer Nähe ein wunderschöner Golfplatz. Bin ja nun wirklich kein Golfcrack, aber ein so traumhaft am Meer, ähm See, gelegener Platz verleitet halt auch Untalentierte wie mich jetzt und hier mit Wonne die vollen 18 Loch zu spielen. So ein Resort erwartet man gar nicht hier! Schon die Lobby beeindruckt mit ihrer Großzügigkeit und der großen Panorama-Fensterfront in Richtung See. Der Poolbereich haut mich nicht um. Aber dafür die Zimmer. Die sind sehr geschmackvoll eingerichtet. Vor allem die Badezimmer. Restaurant, Terrasse - auch alles sehr schön. Und vor dem Resort starten die Wanderpfade. Zum See, zum alten Leuchtturm, durch den Wald. Am Ende der Insel gibt ein Aussichtsturm einen tollen Blick auf die umliegenden Inseln und Parks frei. Also, hier gibt es noch so viel mehr zu entdecken! Komisch eigentlich, dass sich diese Ecke von Manitoba bislang so erfolgreich vor mir versteckt hat! Ein echter Insidertipp, der gerade einmal zwei Stunden nördlich von Winnipeg so plötzlich und unerwartet echtes Atlantikflair versprüht. Glücklicherweise ohne den gelassenen Charme der Prärie zu verlieren!

On the road again – knappe 400 völlig verkehrsfreie Kilometer führen uns über die Route 68 und durch "The Narrows" am Lake Manitoba direkt nach Westen in Richtung Riding Mountain Nationalpark. Die Einsamkeit ist wie das Umlegen eines Schalters für mich. Der Puls fährt runter, man wird ruhig, entspannt. Der Tempomat ist schon lange angeschaltet. Man bringt sich in die bequemste Sitzpostion und nippt an dem gerade an der Tanke gekauften Kaffe. Genussmodus. Roadtrip! Und es ist richtig schön hier. Rollende Hügel, viel Wald, Wasser, weite Wiesen. Unser Ziel ist das Elkhorn Resort direkt am Parkeingang. Ein Resorthotel mit Zimmern im Hauptgebäude sowie Cabins und Chalets über das große und teils bewaldete Resortgelände verteilt. Zu letzterem gehört auch ein großer Reitstall und ein Golfplatz. Gefällt mit gut, das Elkhorn – auch, dass es ein kultiges Pub-Restaurant gibt. Comfort-Food – genau das, was wir heute abend brauchen!

Der Morgen kommt früher als erwartet. Fünf Uhr, sagt mein Handy – puhh, habe ich mich nicht gerade erst hingelegt? Egal, raus aus den Federn, Turbodusche, in die Klamotten gebeamt und rüber zur Resort-Rezeption. Hier wartet Pat Rousseau bereits auf uns. Mit ihm wollen wir heute morgen auf die Pirsch gehen. Vor allem die Bisonherde im Park wollen wir finden! Pat grinst uns entgegen. Was für ein Typ. Weißgraue Haare, Brille, knorriges Gesicht, Schnurrbart und gekleidet wie ein Manitoban hier oben halt gekleidet sein sollte. Shirt, karriertes Hemd, Steppjacke, Baseballkappe. Selbst die Stimme passt perfekt: tief, verraucht, symphatisch. Pat war jahrelang der für Wald und Wild zuständige Ranger im Riding Mountain Nationalpark. Er kennt den Park wie seine Westentasche. Perfekt für uns, denn nun kann man Pat für Pirschfahrten am Morgen und Abend buchen. Und genau das haben wir am heutigen Morgen getan. "Und morgens ist es auch wirklich am schönsten“, grinst Pat mich weiter an, als er meinen verzweifelt nach Kaffee suchenden Blick bemerkt. Aber die zunächst zu dieser Tageszeit völlig von uns überraschte Rezeptionistin ist echt auf Zack und hat in Windeseile eine große Kanne mit frischem Kaffee und To-Go-Cups besorgt. Perfekt!

Pat steigt zu uns in den Wagen und wir fahren los. Es ist schon jetzt eine beeindruckende Morgenstimmung. Überall recken überraschte Weißwedelhirsche ihre Köpfe aus dem halbhohen Gras am Wegesrand, vor uns sehen wir noch gerade einen Schwarzbären im Unterholz verschwinden. "Jetzt links", sagt Pat und wir verlassen den Asphalt. Es geht hinein in den Wald und schon nach fünf Minuten bin ich froh, dass wir Pat dabei haben. Er kennt hier wirklich jeden Abzweig. Drei Stunden sind wir mit Pat unterwegs und ich genieße jede einzelne davon. Leider haben wir kein Glück mit den Elchen – und das passiert mir wirklich zum allerersten Mal im Riding Mountain Park, der sich ja durch seine große Elchpopulation auszeichnet! Aber die Natur ist nicht planbar und das ist auch gut so. Aber wir finden die Bisons! Auf der Südwiese kommen sie ganz nah an uns heran. Wir können uns kaum sattsehen und verbringen eine ganze Weile bei den mächtigen Tieren in dieser herrlichen Morgenstimmung. Mystisch, wie uns die mächtigen Tiere durch die wallenden Morgennebel über der farbenprächtigen Wiese vor unsere Linse stapfen! Das Geheimnisvolle trägt der gesamte Park zu dieser Stunde wie ein wunderschönes Gewand. Ein Fest für das Auge. Und überall sind wir ganz allein. Immer wieder müssen wir anhalten, um die malerischen Wald- und Seenlandschaften auf uns wirken zu lassen. Und um mit Pat zu plaudern. Über den Park, die Tiere und seine Pirschfahrten, die ihn nun auch nach seiner aktiven Zeit als Ranger weiter mit der Flora und Fauna des Parks verbinden und ihm ermöglichen, sein Wissen und seine Begeisterung für die Natur des Parks an Reisende aus aller Welt weiterzugeben.

Hochzufrieden und immer noch ein bisschen verzaubert verlassen wir den Wald und bedanken uns herzlich bei Pat, der sich am Elkhorn Resort wieder von uns verabschiedet. Wir fahren weiter nach Wasagaming, dem einzigen kleinen Ort im Park. Keine Pirschfahrt ist komplett ohne einen Kaffee und ein kleines Gebäckfrühstück in der Whitehouse Bakery. Gefällt mir sehr gut, dieses kleine Wasagaming. Ich war schon lange nicht mehr hier und es hat sich einiges getan. Schmucke Holzhäuschen, nette Lädchen, kleine Boutiquen, einladende Restaurants und überall bunte Deckchairs als Farbkleckse in diesem Ort, der mich ein bisschen an das Jasper von vor 15 Jahren erinnert. Sehenswert ist nach wie vor das Visitor Center von Parks Canada. Das urige Blockhausgebäude mit Mauerelementen ist von innen noch gemütlicher als von außen! Das Feuer im Kamin knistert und bequeme Stühle laden zum Verweilen inmitten der kleinen aber feinen Ausstellung über Flora und Fauna des Parks. Wir erfahren, dass viele Wildnisexkursionen sogar von den Parkmitarbeitern geführt werden. Kostenlos oder für sehr geringe Unkostenbeteiligungen. Toll! Man bekommt richtig Lust, sich in das Outdoorabenteur Riding Mountain Park zu stürzen. Und das tun wir – auf dem Mountainbike, im Kanu und auf Schusters Rappen.


Von weißen Bären und weißen Walen
Churchill, Hudson Bay


Zurück in Winnipeg. Für uns geht es zum Flughafen. Oder besser zum eigenen Hangar der kleinen Fluggesellschaft Calm Air. Sicherheitskontrolle? Wofür? Die Dinge sind einfacher hier, unkomplizierter. Also los. Auf nach Churchill! Der Anflug auf den Flughafen des kleinen Örtchens an der Hudson Bay ist spektakulär. Man sieht, wie der Ortskern im Prinzip eingekeilt ist von der Ozeanbucht im Norden und dem mächtigen Churchill River im Süden und Südwesten. Debbie und Gerald, unsere Driver-Guides von der Lazy Bear Lodge, erwarten uns schon in der kleinen Wellblechhalle des Airports. Mit dem Bus geht es erst einmal zu einer Orientierungsfahrt durch Ort und Umgebung. Finde ich spannend, denn Churchill ist erstaunlicherweise ein richtiger kleiner Ort. Nicht wirklich vergleichbar mit anderen, durch First Nations geprägte Orte im Norden Kanadas. Die Infrastruktur ist vergleichsweise besser, viel besser. Es gibt eine ansehnliche Schule, ein großes Gemeindezentrum, in dem es u.a. sogar ein Hallenbad und eine Eishalle zum Hockeyspielen geben soll. Ein Krankenhaus, mehrere Hotels und Bars, einen Supermarkt, ein Post Office, in dem man sich kostenlos einen Polarbärenstempel in seinen Reisepass stempeln lassen kann und nebenan einen Liquor Store. Nein, Churchill ist keine "Dry Community", freue ich mich. Dann darf's auch mal ein Weinchen oder Bierchen sein.

Ahhhh – endlich Arktis! Die Hudson Bay zieht mich magisch an. Einer der wenigen weißen Flecken auf meiner persönlichen Kanada-Reisekarte. Bis heute! Subarktisch – so, muss man die Gegend um Churchill wohl eigentlich nennen. Zwar ist man in der Tundra, der vegetationsbezogenen Grenzdefinition der Arktis, doch die sogenannte Juli-10-Grad-Isotherme, also die imaginäre Linie, in der die Temperatur auch im Juli im Mehrjahresmittel 10 Grad nicht übersteigt, liegt noch ein Stück weiter nördlich. Und diese Linie wird gemeinhin als südlicher Beginn der Arktis angesehen. 15 Grad sind es heute, an dem Tag, an dem ich zum ersten Mal einen Fuß in die Tundra der Hudson Bay setze. Also, Subarktis. Meinetwegen….

In unserem Bus verlassen wir Churchill und fahren über eine holprige Schotterstraße hinaus zum Cape Merry, zur Mündung des Churchill River in die Hudson Bay. Ein spektakulärer Ort. 1749 wurde hier von den Briten ein Kanonen- und Schwarzpulver-Stützpunkt errichtet zum Schutz des Prince of Whales Forts, einer mächtigen Steinkonstruktion auf der gegenüberliegenden Flussseite. Genauer gesagt ist diese Stützpunkt im Jahr 1749 an seine jetzigen Stelle "umgezogen" worden, nachdem man bemerkt hatte, dass der einige Jahre zuvor und einige Meter weiter nördlich erbaute ursprüngliche Stützpunkt strategisch ungünstig war. Zu leicht hätten die Kanonen erobert und zum feindlichen Angriff auf das Fort genutzt werden können. Tja, solche Fehler passieren, damals wie heute. Für den Umbau des ursprünglich im Jahr 1717 erbauten Holz-Forts hat man übrigens fast 40 Jahre benötigt – von 1731-1771.

Die Mündung des mächtigen Churchill River in die Bucht, die felsige Tundralandschaft, die endlose Weite in alle Richtungen. Das Wetter kann sich nicht entscheiden, ob die Sonne scheinen soll oder ob es gleich einen ordentlichen Guss geben soll. Das daraus resultierende Zwielicht sorgt für eine ganz besondere Atmosphäre – es verleiht der ganzen Szenerie ein regelrecht mystisches Flair. Das hat was! Aber so richtig aus dem Häuschen bin ich, als ich begreife, dass die weißen Schaumkronen der Wellenkämme, die ich auf dem Churchill River sehe, keine Wellenkämme sind, sondern Belugas! Das gibt es doch gar nicht! So viele! Das Auge muss sie nicht suchen. Man muss nur auf eine Stelle gucken und binnen Sekunden tauchen dort einige Weißwale auf und wieder ab. Hammer! Es geht ein spürbarer Wind und in der Bucht treiben tatsächlich Wellen über die Oberfläche. Auch hier erkenne ich nun einige Wale, aber scheinbar hält sich eine große Zahl der Belugas – vielleicht wegen des Windes und des Wellengangs in der Bucht – im windgeschützteren Fluss auf. Na, das fängt doch super an, oder? 

Weiter geht es im Bus entlang an der wunderschönen Küstenlinie. Die Wege sind hier außerhalb des Ortskerns von Churchill alle nur aufgeschottert. Alles andere würde angesichts der zu erwartenden Frostschäden wohl keinen wirtschaftlichen Sinn machen. Durch eine bizarre Felslandschaft geht es in die Einsamkeit, bis da plötzlich ein abgestürztes Flugzeug in den Felsen herumliegt. Eine Curtiss C46, das Frachtflugzeug mit dem Spitznamen "Miss Piggy". Völlig überladen schaffte dieser Flieger 1979 beim Anflug die letzten paar hundert Meter zur Rollbahn nicht mehr. Alle Insassen überlebten und das Flugzeug ist nun eine Art Sehenswürdigkeit von Churchill, die inzwischen sogar mit einem Künstlergraffiti versehen wurde. Man kann um, auf und in dem Flugzeug herumlaufen – unter Sicherheitsgesichtspunkten in meinen Augen durchaus bedenklich. Aber es ist halt der Norden.

Next Stop „Polar Bear Holding Facility" – besser bekannt als „Polarbärengefängnis“. Bären, die den Menschen von Churchill gefährlich nahe gekommen sind, werden in Bärenfallen gefangen und hierhergebracht, um sie über 2-4 Wochen auszuhungern. „Hier keine Nahrung“ soll die Botschaft sein. Angeblich hatte das Programm in den Anfangsjahren, als die gefangenen Bären hier noch gefüttert wurden, weitaus weniger Erfolg. „Nachdem Sie mit dem Füttern angefangen hatten“, erklärt und Guide Gerald scherzhaft, „hatten sie im nächsten Jahr hier vor dem Gefängnis eine Polarbären-Warteschlange!“. Hmm, ich weiß nicht, bin solchen Einrichtungen gegenüber immer etwas skeptisch. Ich verstehe aber, dass die Menschen, wenn sie nun einmal hier sind, vor den Bären geschützt werden müssen. Und natürlich lache ich mit Gerald mit. Der langhaarige und teils ergraute Guide gehört der ethnischen Gruppe der Métis an, Nachfahren der frühen Pelzhändler und indianischer Frauen. Ich bin kein Freund des Wortes „authentisch“, aber bei Gerald würde ich eine Ausnahme machen. Als ich dann noch erfahre, dass dies hier nur eine Nebenbeschäftigung im Sommer für ihn ist und dass er eigentlich einen großen Kennel mit Schlittenhunden hat, passt wirklich alles wie die Faust auf’s Auge. Sein „Sidekick“ (O-Ton Gerald) Debbie ist das krasse Gegenteil. Ein zartes Persönchen, die so gar nicht in den rauhen Norden zu passen scheint und bei der das geschulterte Gewehr ganz und gar nicht so selbstverständlich wie bei Gerald wirken will. Aber Debbie scheint zu lieben, was sie tut. Und sie hat Ahnung von der Flora und Fauna der Subarktis – das merkt man. Bei jedem Stop auf unserer Orientierungstour steht sie uns für jegliche Fragen zur Verfügung und sichert zusammen mit Gerald vor und während unseres Aufenthalts dezent das Gelände.

Ankunft an der Lazy Bear Lodge. Schön, gemütlich. Einzigartig für eine Unterkunft im hohen Norden. Schon im Eingangs- und Rezeptionsraum hat man den Eindruck in einer urgemütlichen, kanadischen Berglodge zu sein. Nach links schließt sich die Lounge an, wo man sich typischerweise kurz vor Exkursionsbeginn sammelt. Und die Lounge sieht aus, wie sie halt aussehen muss: Gemütliche Sofas, warmes Licht vor heimeligem Holzambiente. Im Ofen knistert das Feuer und auf einer rustikalen Anrichte kann man sich einen leckeren Kaffee zapfen. Ich nicke innerlich. Super – das passt richtig gut. Mir gefällt auch, dass dieser Raum nicht zu groß ist und versucht den Eindruck eines Lodge-Resorts zu vermitteln. Das würde nicht passen. An die Lounge schließt sich der zweigeschossige Trakt mit den Gästezimmern an. Wenn man durch den Flur geht und sich umschaut - bei mir ist es im ersten Stock – dann würde man wohl überall sonst denken: „OK – Motel-Unit – einfacher geht’s kaum.“ Langgezogener Gang, rechts und links die Zimmertüren. Aber auch hier sind die Wände und Decken mit rauhgesägten Holzbrettern überlappend verkleidet. Die Nummernschilder an den Zimmertüren sind Baumscheiben. In dem warmen Ambiente, das so viel rustikales Holz einfach schafft, reicht dann ein schlichtes braunes Ledersofa in der Mitte des Ganges, um auch einen simplen Hotelflur richtig toll wirken zu lassen. Gemütlich, richtig gemütlich! Und natürlich freut man sich, dass sich genau dieser Stil auch in den Zimmern konsequent fortsetzt – bis hin zu dem aus einem Baumstamm geschnittenen Nachttisch am Bett. Lediglich in den Badezimmern hätte man eben diesen Stil noch konsequenter verfolgen können. Aber auch mir ist genau in diesem Bereich die Funktionalität und Sauberkeit am wichtigsten und ich verstehe, dass sich diese Wanne-Dusche-Wandkombinationen aus einem Kunststoffguss sicherlich am besten sauberhalten und pflegen lassen. Insgesamt spiegeln die Zimmer wider, wie es in dieser Lodge gelungen ist, den eigentlichen Widerspruch zwischen dem kargen Flair, der Einfachheit des Nordens und der Gemütlichkeit einer modernen Rundholzstamm-Lodge aufzuheben. Denn mein Zimmer ist gemütlich. Richtig gemütlich. Und trotzdem ist es karg und einfach – und damit ja eigentlich auch genau das, was ich im Norden erwarte und haben will. Denn ohne dieses nordisch-rustikale wäre es doch irgendwie auch nicht richtig, oder? Eine Unterkunft im unwegsamen Norden muss schlicht sein. Das ist einfach so. Aber wenn man das dann mit einem blitzblanken und vor allem eigenen Badezimmer, einem warmen Holz-Ambiente und einer Keurig-Kaffeemaschine verbinden kann – welcher Nordland-Purist würde denn da nein sagen?

Nein sagen wird man auch kaum zum „Lazy Bear Café“. Auf dem Namensschild lese ich „Where hungry bears find good food!“ Genau das kann ich nur bestätigen. Das Frühstück wird als Buffet gereicht und es gibt eigentlich alles, was man braucht. Vom Rührei mit Speck bis hin zu frischen Früchten, Quark und Müsli. Und an insgesamt fünf Abenden habe ich hier keine schlechte Mahlzeit serviert bekommen. Im Gegenteil, alles war ausgezeichnet! Natürlich isst das Auge auch mit und das herrlich gemütliche Ambiente der handgeschnitzten Möbel rund um den beeindruckenden offenen Steinkamin sind dem kulinarischen Erlebnis absolut zuträglich. Man fühlt sich wohl, gerade wenn das subarktische Wetter draußen mal nicht so gut ist und der kalte Wind über die Tundra fegt. Apropos Tundra: An den urgemütlichen Dining Room schließt sich ein weiterer, kleiner Raum mit großen Fenstern an. Hier kann man sich an den gleichen schönen Holzmöbeln zum Essen nierderlassen, hat zwar nicht mehr den direkten Einfluss des gemütlichen Kaminraumes, kann dafür aber während der Mahlzeit den Blick in die Weite der Tundra schweifen lassen.


Als richtige Exkursionsbasis ist die Lazy Bear Lodge natürlich auch der Organisator und Manager unserer Exkursionen. Der Informationspool, in dem die wechselnden Wind- und Wettervorhersagen, die Infos der Guides draußen und die Einschätzung der Bootsführer zusammenfließen. Alle Mitarbeiter draußen sind per Funk mit der Lodge-Rezeption verbunden – und der Funkverkehr ist rege. Hier erfahren wir, ob unsere jeweilig geplante Exkursion starten kann oder ob sie verschoben wird oder gar ausfallen muss. Und geplante Exkursionen gibt es so einige rund um die Lazy Bear Lodge. Ganz grob kann man sie wohl in Exkursionen zu Land und zu Wasser einteilen. Zu sehen gibt es immer viel, aber die Stars dieser Natur- und Wildlife-Show sind natürlich die weißen Wale und die großen weißen Bären.

Die „Wassertrips“ stellen die Belugas in den Mittelpunkt. Beim Whalewatching im Zodiac verbunden mit der Fahrt hinüber zur anderen Seite des Churchill River, um das alte Fort Wales zu besichtigen. Oder im Kajak in den leichten Wellen der Bucht, wenn die weißen Wale einen regelrecht begleiten. Beeidnruckend auch die lange Exkursion in der Hochseeyacht entlang der Küste der Bucht. Wally Daudrich, Inhaber der Lazy Bear Lodge, ist der stolze Captain dieses Bootes. Es ist das einzige seiner Art in Churchill und garantiert den Gästen der Lodge gerade in den Sommermonaten ein besonderes Plus an Erlebnis. Denn bei gutem Wetter geht es bis hinauf zur Mündung des Seal River. Wir sehen unglaublich viele Belugas! Vor allem die Muttertiere, die mit ihren eher gräulich gefärbten Kälbern immer wieder so synchron in den Wellen auf- und abtauchen, dass man meinen könnte sie wären miteinander verwachsen. Auch hier scheint man die Neugierde der Tiere und den scheinbaren Willen zur Interaktion förmlich zu spüren. Das ist etwas ganz neues für mich. Das ist anders als beispielsweise bei den Orcas, bei denen mit etwas Glück auch Aktivität aber letztlich kaum Interesse an den menschlichen Besuchern zu beobachten ist. Es berührt mich irgendwie, wie sehr man von diesen weißen Walen wahrgenommen wird. Und es ist toll, dass unser Boot mit einem Unterwassermikrofon ausgestattet ist und wir live diesem voluminösen Mischmasch aus Pfeif- und Klicktönen lauschen können. Quantität und Qualität der Kommunikation passt einfach zu diesen Walen. Die „Kanarienvögel der Meere“ werden sie ja auch genannt. Jetzt weiß ich wieso!

Dann aber auf zu den Polarbären. Auf zur Exkursion in die Küstentundra an Bord eines dieser mit Riesenreifen versehenen Spezialfahrzeuge. „Arctic Crawler“ nennt die Lazy Bear Lodge ihre eigenen Fahrzeuge dieser Art. Mit dem Bus geht es zunächst hinaus aus Churchill, zur sogenannten „Launch-Station“. Eine Art Rampe, an der die großen Fahrzeuge rückwärts andocken und über die man mittels Treppe und Steg einfach in die ja so dramatisch höhergelegten Fahrzeuge gelangt. Und dann geht's los, gefühlt tatsächlich im "Kriechtempo" – der Name "Crawler" passt also perfekt. Und jeder SUV-Fahrer mit echtem Geländemodus kennt dieses Fahren. Jede Unebenheit im Gelände wird von den stark profilierten und stoßgedämpften Reifen genommen, jeder Schlag geschluckt oder zumindest stark abgefedert. Und die langsame Fahrt durch die Tundra ist beeindruckend, die Küstenlinie einfach ein Traum. Guide Gerald sitzt auch beim Arctic Crawler hinter dem Steuer. Auf die Frage, ob er hierfür einen besonderen Führerschein machen musste, schmunzelt er: „Hmm, nein, ich hab’s halt einfach gelernt.“ Tja, so einfach ist hier im Norden! Und Gerald bringt uns mit seinem Crawler tief hinein in die Tundra, während Guide Deb uns mit allerhand biologischem und geographischem Wissen über das, was wir draußen sehen versorgt.

Das Highlight ist für mich, als Gerald den Motor abstellt, Deb die Klapptreppe am Heck hinablässt und wir alle mitten in der Tundra aussteigen dürfen! Ein bisschen dauert es allerdings, bis Deb das entscheidende „Go!“ signalisiert. Vorher macht sich Gerald mit seinem Gewehr auf den Weg, klettert in die Felsen und sichert einen etwa 150 Meter großen Radius rund um unseren Crawler. Er selbst bleibt auf dem höchsten Felsen stehen und lässt den Blick permanent im Rund schweifen. Nein, hier beim Spaziergang durch die Tundra wollen wir wirklich nicht von einem Polarbären überrascht werden – so gern wir ihn auch gleich bei der Weiterfahrt sehen würden! Aber es ist schon ein komisches und zugleich bewegendes Gefühl, hier nun so völlig ohne Gräben und Zäune eigene Schritte im Reich des großen Polarbären tun zu können. Und dann entdecken wir auch prompt ein untrügliches Zeichen, dass der große weiße Bär in der Nähe ist: frische Polarbärenlosung. Ähnlich wie beim Grizzly: voller Beeren. Klar, die Blaubeeren sind gerade reif und stehen bei den Polarbären ganz oben auf dem Speiseplan. Gefolgt von Karibu – die Überreste eines Kadavers haben wir schon auf der Hinfahrt erspäht.

Einen Augenblick verweilen wir noch an diesem schönen Ort fast direkt an der Küste. Die Sonne kommt heraus und wir genießen das leckere Sandwich, das bereits in der Lodge für uns zubereitet wurde. Die Sonnenstrahlen haben noch Kraft. Man muss nur etwas aus dem Wind heraus, dann kann man sogar die Jacke ausziehen. Auf dem Weg zurück lasse ich noch einmal das Küstenpanorama auf mich wirken – hinten im "Cabrio-Stehbereich" des Arctic Crawler. Es ist einfach wunderschön. Und dann diese Einsamkeit, denn man weiß ja, dass hier weit und breit nichts ist. Dass man so etwas schönes im Prinzip für sich ganz allein haben kann! Und groß dann die Aufregung auf der Rückfahrt, als Gerald plötzlich einen der weißen Riesen in den Felsen am Wegesrand erspäht. Eine Mutter mit Jungtier. Unsere ersten Polarbären aus der Nähe, sprich ohne ein Fernglas zu brauchen. Großartig!

Zurück an der Lodge erfahren wir, dass unsere Bootstour am Nachmittag aufgrund des Wellengangs auf den nächsten Morgen verschoben wurde. Gut, ein Nachmittag in der Lodge? Nein. Tom und ich sind uns einig. Es ist noch viel zu schön draußen. Ja, es windet ganz gut auf, aber die Sonne scheint noch zwischen den Wolken durch und taucht alles in ein unheimlich stimmungsvolles Licht. Kurzerhand frage ich an der Lodge-Rezeption nach, ob es in Churchill nicht einen Taxi-Service gibt. Ich erwarte eigentlich ein schallendes Lachen als Antwort, aber der junge Mitarbeiter lächelt mich nur an – und nickt! Ja, gibt es und die Taxifahrer wären auch darauf vorbereitet, Rundfahrten rund um Churchill anzubieten und durchzuführen. Na, super! Her mit dem Taxi! Ob es in 10 Minuten passen würde? Natürlich! Schnell springen wir hoch auf die Zimmer, um uns die Kameras wieder zu schnappen.

Und dann passiert, was ja so oft geschieht, wenn man spontan umdisponieren muss: Die vermeintliche Notlösung entwickelt sich zum Highlight! Absolut pünktlich fährt Leonore vor. Sie ist über 70 und ihr gehört das Taxiunternehmen. Ihr roter SUV ist sicher nicht das letzte Modell, aber scheint fahrtüchtig. Und Leonore ist ein echtes Churchill-Original! "Yessir, born and raised in Churchill, Manitoba", beantwortet sie nicht ohne Stolz meine Frage. Und los geht die Fahrt – ein bisschen durch den Ort, denn Leonore kann noch so viel erzählen. Wie sich hier jeder hilft und wo sich vor ein paar Tagen noch ein Polarbär mitten im Dorf gesonnt hat. Und dann fahren wir hinaus in die Tundra, denn das ist es ja, was wir wollen. Und Leonore scheint auch Lust drauf zu haben. Über die Schotterpisten geht es hinaus ins Land. Leonore zeigt uns, wie die Leute leben, die entschieden haben außerhalb von Churchill zu leben. Und erzählt uns, wo zuletzt ein Polarbär oder Grizzly eingebrochen hat, wie ein kleines Schweinezucht-Experiment von den Polarbären beendet wurde und dass es keinen Sinn macht, im Winter auf der Veranda Vögel zu füttern, da irgendwann neben den gefiederten Freunden auch die mit den vier weißen Tatzen auftauchen. Tom und ich hängen an Leonores Lippen. Eine Geschichte folgt der nächsten. Unheimlich unterhaltsam, während man den Blick in diese herrlich einsame, endlos weite und jetzt im Subarktis-Sommer durchaus farbenfrohe Tundralandschaft schweifen lassen kann. Leonore zeigt uns die weit außerhalb vom Ort gelegene Marina, wo Wasserflugzeuge parken und es sogar einen recht neuen und frei zugänglichen Aussichtsturm gibt, der uns einen tollen Blick über die weite Marschlandschaft des Churchill River genießen lässt. Die Tundra im Sommer ist wirklich ein Erlebnis!

Wir haben Leonore für eine Stunde gebucht, aber schon nach einer guten halben Stunde fragen wir, ob wir um eine weitere Stunde verlängern können. „No problem at all“, lächelt Leonore. Super. Und nebenbei bemerkt, diese Exkursion außer der Reihe ist absolut erschwinglich: 60 Dollar verlangt Leonore pro Stunde – dafür bekomme ich bei mir zuhause im Münsterland nicht einmal für eine halbe Stunde ein Taxi, geschweige denn eine geführte Tour durch Ort und Landschaft! Dieses Erlebnis hier entwickelt sich zum echten Geheimtipp. Wir beschließen noch einmal zum Cape Merry zu fahren, zur Mündung des Churchill River in die Hudson Bay. Entlang der wunderschönen Küstenlinie, die uns bereits am ersten Tag so in ihren Bann gezogen hat. Was soll ich sagen, es wird ein Traum. Wir sind ganz allein an dieser herrlichen Strand- und Felsenküste und Leonore kennt natürlich viele durchaus unwegsame Abzweige, die uns direkt ans Wasser bringen. Na, klar, der Taxi-SUV ist ein älteres Modell und hat eh schon ‘ne Menge „Tundra-Macken“ – da ist man nicht mehr so pingelig. Super für uns. Wir genießen die Panoramen und die einmalige Stimmung aus dem Zusammenspiel von Sonne, Wolken und dem stärker werdenden Wind, der die Wellen mit Schaumkronen gegen die Küste treibt. Wie das i-Tüpfelchen im Gesamtbild, das Finish eines Gemäldes. Traumhaft. Als wir am Cape Merry ankommen, wird die Stimmung durch die sinkende Sonne noch intensiver. Es ist einfach nur wunderschön. Man möchte sich am liebsten auf die Felsen setzen und einfach nur stundenlang verweilen und genießen. Machen wir auch. Aber nicht stundenlang, denn Leonore wartet im Auto. Im Sommer fröstele sie immer so leicht, sagt sie. Die typische, lokalironische Befindlichkeit der Menschen, die hier an der Hudson Bay im Winter monatelang bei Temperaturen von minus 30 Grad und kälter leben. Ein letzter Blick auf den Churchill River und Tom und ich stellen fest, dass tatsächlich deutlich weniger Belugas im Wasser zu sehen sind als am Vortag. Umso mehr sind wir uns sicher, dass wir nun das Allerbeste aus diesem Nachmittag gemacht haben. Was für ein Erlebnis. Was für eine tolle Landschaft. Und was für spannende und humorvolle Geschichten! Ich habe das Gefühl, Churchill nun richtig gut zu kennen.

Ein Highlight wartet noch auf uns – auch eine Exkursion außer der Reihe: Der Helikopterflug über die Küstenlinie der Hudson Bay – natürlich auf der Suche nach Polarbären! Der Flug ist nicht im vorgeplanten Exkursionsprogramm der Lazy Bear Lodge enthalten, aber die Lodge bietet ihn in Kooperation mit einer Firma am Airport an und organisiert die Logistik, von der Terminierung und Eingliederung ins Tagesprogramm bis hin zu den Transporten zum und vom Helikopter am Airport. Gut, wir haben tatsächlich ein wenig Bedenken, da es immer noch sehr kräftig aufwindet, vorsichtig ausgedrückt. Und große, dunkle Wolken schieben sich in beeindruckender Geschwindigkeit über den Himmel. „Ha“, sagt Pilot Jamie und winkt mit der Hand ab. „I fly in much worse stuff than this!“ Also gut, hinein in den knallroten Heli, kurzes Sicherheits-Briefing und wir heben ab. Steil nach oben. Und dann nach Osten zum Kap! Schon wenige Flugmeter später bin ich in einer anderen Welt. Es sieht einfach nur grandios aus von hier oben und es erstaunt mich, wie wenig man im Heli von dem starken Wind mitbekommt – eigentlich gar nichts. Und die Lichtstimmung der über uns dahinfliegenden Wolken über der wunderschönen Küstenlinie ist atemberaubend, hat echtes Gänsehautpotenzial. Ich liebe es ja, diese Perspektive einzunehmen. Die Dinge von oben zu sehen. Mal abgesehen von aller Schönheit, Großartigeit und dem Erlebnis des Helikopterflugs an sich finde ich immer, dass man das Land besser versteht. Man sieht und realisiert wie einsam es wirklich ist, wie schön und wie abwechslungsreich. Man versteht, dass es wirklich nur der Ort Churchill ist zusammen mit den wenigen Behausungen außerhalb, dem Flughafen und der Forschungsstation vor dem knapp 50 Kilometer südwestlich von Churchill beginnenden Wakusp Nationalpark. Das ist alles – sonst ist hier nichts. Nur die faszinieerende Wildnis der endlosen Tundra. „Wakusp“ ist übrigens das Cree-Wort für „weißer Bär“ und mit dem wilden Cape Churchill beherbergt der Park eine Region, die wohl weltweit als der beste Ort für Polarbärensichtungen bezeichnet werden kann. Allerdings ist der Zugang zum Park streng limitiert, um ihn zu schützen. Im Prinzip kommt man nur mit dem Helikopter hinein, so wie wir, oder mit den Tundra Buggies von Frontiers North, als weiterer Expeditionsveranstalter in Churchill – natürlich auch ein wichtiger Partner von SK Touristik. Gerade fliegen wir über die kleine Landzunge mit dem Namen „Polar Bear Point, die ich zum ersten Mal von oben sehe, die mir aber trotzdem bekannt ist: Hier wird im Spätherbst die „Tundra Buggy Lodge“ hingezogen und stationiert. Diese einzigartige Zusammenkettung von zu Restaurant-, Lounge-, Beobachtungs- und Schlafeinheiten umgebauten Tundra Buggies gibt in dieser Zeit einigen wenigen Menschen die Möglichkeit, unter professioneller Führung einige Tage im Park und direkt bei den Polarbären zu leben - Tag und Nacht. Ist sehr bliebt bei Fotografen und steht definitiv auch noch auf meiner Liste!

Polar Bear Point – Nomen est Omen: Schlagartig geht es los mit der großen Polarbärenshow! Ich weiß gar nicht, wie viele Bären wir sehen. Waren es 10 oder 12 – oder mehr? Egal, es ist ein unglaubliches Spektakel! Klar, es ist immer ein Erlebnis einen Bären zu sehen. Aber plötzlich einen riesigen, schneeweißen Bären vor sich zu haben – ganz ehrlich, da kommt kein Grizzly mit – und ich weiß, wovon ich rede! Ich bin sprachlos und versuche, mir möglichst schnell Pilot Jamies Geschick anzueignen, die weißen Riesen zu erspähen. Klappt schon nach kurzer Zeit ganz gut. Aber es bleibt ein „Hit and Miss“. Zu viele Felsen und Steine sind so hell, dass man zunächst schwören könnte, es wäre ein Polarbär. „Those are rock bears“, erklärt uns Jamie über unsere Kopfhörer und grinst. Aber wir sehen sie, die weißen Bären. Viele halten sich am Strand in direkter Wassernähe auf. Klar, vom Wasser kommt die Nahrung. Idealerweise in Form eines Meeressäugers wie einem Seehund oder einem Beluga. Die springen natürlich nicht freiwillig an den Strand und richtig jagen können die Bären die Seehunde noch nicht – dafür brauchen sie das Eis. Aber immer wieder wird ein Kadaver angeschwemmt. Vielleicht von Orcas erlegt, vielleicht einfach so gestorben. Und dann geht für die Bären das schnelle Fressen wieder los – ein Snack zwischendurch. Tatsächlich sehen wir Bären am Strand patroullieren und erspähen dann sogar zwei Bären an einem Walkadaver. Einer frisst, der andere – ich meine der größere – hat das scheinbar für den Moment schon hinter sich und hat sich ein Stück abseits der Futterquelle niedergelegt. Die meisten Bären, die wir sehen, ruhen an der Küste. Auch Muttertiere mit ihren Jungen. Die müssen natürlich besonders vorsichtig sein. Es ist im Prinzip eine Zwickmühle für sie. Auf der einen Seite müssen sie hierher ans Wasser kommen in der Hoffnung für sich und ihr Junges Nahrung zu finden. Auf der anderen Seite müssen sie gerade hier besonders aufpassen und den großen männlichen Bären aus dem Weg gehen, die sich sonst auch gern mal am Nachwuchs vergreifen. Die Bärensichtungen begeistern mich, machen mir klar, wie viele Bären hier eigentlich leben! Natürlich gibt es für die Helikopterpiloten strenge Vorschriften. Ein Mindestabstand zu den Bären muss auch nach oben hin gewahrt bleiben, um sie nicht zu stören oder sie zu Reaktionen zu verleiten, die sie sonst nicht zeigen würden. Klar, bin der erste, der dafür volles Verständnis hat. Und für brauchbare Aufnahmen reicht’s allemal!

Einzigartig, diese schneeweißen Tiere vor dem Hintergrund einer absolut nicht winterlichen Kulisse zu sehen. Wasser, Kiesflächen, Tundragras in allen Farben, Sträucher, kleine Bäume und Felsen – fast wie ein überdimensionales Zoogehege. Aber auch nur fast. Und auch nur, wenn man den Blick auf eine bestimmte Stelle fokussiert und einfriert. Und ihn nicht schweifen lässt, um dem Gehirn über das Auge die unendliche Weite der Tundra zu zeigen. Nein, das hier ist kein Zoogehege. Das ist die Tundra an der riesigen Hudson Bay, das ist die einsame Subarktis, deren scheinbare Endlosigkeit das Gehirn eigentlich nicht begreifen kann. Eine menschenleere Weite, die – anders als ein Zoogehege – durch nichts begrenzt scheint. Es geht einfach immer weiter mit mehr Wildnis, mehr Küste und immer mehr Polarbären! Ob wir noch einen kurzen Blick auf den Churchill River, Cape Merry und das Fort Prince of Wales werfen können, fragen wir unseren Piloten. „Na, klar“ zwinkert uns Jamie über seine Sonnenbrille hinweg zu. Als Helikopterpilot muss er natürlich die Zeit im Auge behalten, da jede Flugminute echtes Geld kostet. Aber letztlich sind wir ja im Norden – und auch hier oben im Helikopter „on Northern time“. Da soll’s doch wohl auf ein paar Minuten mehr nicht ankommen, gibt uns Jamie zu verstehen. Wir finden’s super! Das Wetter ist besser geworden, die Felsküste auf dem Weg zur Mündung des Churchill River ist mit der vom Wind angepeitschten Brandung ein Traum. Ja, und das Fort wirkt von oben natürlich auch noch einmal ganz anders. Es ist ja eine Rekonstruktion aus den 1930er-Jahren, aber komplett originalgetreu und genau am ursprünglichen Ort erbaut. Was für eine beeindruckende Anlage für eine hier im Nirgendwo des unwirtlichen Nordens vor 300 Jahren errichtete Besiedlungsfestung. Und das Sahnehäubchen kommt zum Schluss: Im Bereich der Flussmündung tummeln sich in der Bucht hunderte (mindestens!) Belugas. Ein unfassbares Bild von hier oben! Auch hier ist es die Höhe, die Perspektive, die einen, wenn auch nur ansatzweise, begreifen lässt, was es eigentlich heißt, dass genau jetzt im kurzen Sommer so viele Wale in der Bucht sind. Einfach nur toll! Von diesen Bildern und Eindrücken werde ich lange zehren.

Der letzte Morgen in Churchill – nur noch wenige Stunden, bis unser Flug zurück nach Winnipeg abhebt. Der Bus bringt uns zurück zum Airport. Bye, bye, Churchill. Aber halt! Was ist das da Großes, Weißes am Wegesrand auf dem grünen Tundragrund? Natürlich, ein Polarbär! Und so nah! Mitten an der Schotterstraße – gerade außerhalb des Ortes! Was für eine Ironie, dass ich dem weißen Riesen der Arktis ausgerechnet auf dem Weg zurück zum Airport am allernächsten komme. Aber so ist er, der Norden. Er haut Dich um, wenn Du es am wenigsten erwartest! Und gut, dass hier im Norden alle so relaxed sind – auch unser Fahrer. Denn natürlich müssen wir einen langen, köstlichen Augenblick bei diesem majestätischen Tier verweilen und es auf alle erdenklichen Weisen fotografieren! Und zum Posieren legt der imposante Polarbär sich mächtig ins Zeug und macht – nichts! Oder fast nichts, bzw. er macht das, was fast alle Polarbären gemacht haben, die wir hier gesehen haben. Er ruht, liegt ausgestreckt da. Das Öffnen der Augen, das Heben des Kopfes – all das wird zum Highlight beim Foto-Shooting. Ein halbes Aufrichten – Hammer! –und dann der Wechsel der Liegeposition. Was für eine Action! Die Situation schreit nach Ironie, aber ich will sie nicht missverstanden wissen. Ich bin wirklich hellauf begeistert, so einen mächtigen Polarbären einmal so unglaublich nah vor mir zu sehen. Was für ein magischer Moment. Auge in Auge mit dem mächtigsten Raubtier des Nordens – also, wenn der Bär dann mal die Augen geöffnet hat. Aber es ist ein ganz besonderer Augenblick für mich. Ein Polarbär zum Abschied auf dem Weg zum Airport – wie zu meinem Geleit. Wie einzigartig!

Manitoba 2018: Süd-Manitoba

Manitoba 2018: Churchill / Hudson Bay