Zwei Tage Knight Inlet British Columbia - Kanada Reiseidee und Tierbeobachtung

Unglaublich. Staunend beobachten wir den mächtigen Grizzly, der friedlich am Ufer das Riedgras aberntet. Wir alle sind aus dem Häuschen! "Schlage vor, wir fahren mal ein Stück weiter", sagt unser Guide Tobin. Bist Du wahnsinnig, denke ich, lass uns doch bitte noch hier bei dem Grizzly bleiben! Ob meine Gedanken in meinem Gesicht zu lesen sind? Denn Tobin grinst mich an und sagt: "Da kommen noch mehr Bären." Und wie Recht er hat.
Text und Fotos: Rainer Schoof



Die ersten Sonnenstrahlen streifen den geschützt und idyllisch im Mündungsbereich des Campbell River gelegenen Landesteg von Vancouver Island Air. Ich blicke den Fluss hinauf und muss daran denken, wie wir uns mit den Kindern vor zwei Jahren in Neoprenanzügen durch diesen kalten Fluss und mitten durch tausende Lachse treiben ließen. Genau hier haben wir damals ausgebootet. Und nun stehe ich wieder hier mit meiner Familie, mit meiner Frau Mirjam und unseren beiden Kindern Anna (11) und Felix (13). Aber diesmal geht es nicht ins Wasser, sondern in die Luft. Der "Waiver" der Knight Inlet Lodge ist schon unterschrieben. Also, hinein ins Wasserflugzeug. Über die Flussmündung starten wir und fliegen an der Painter's Lodge vorbei in einer Rechtsschleife auf den Pazifik hinaus. Viel offener Ozean ist hier ja nicht in der Meerenge zwischen Vancouver Island und dem Festland. Aber unzählige und unglaublich schöne Inselchen mit Bergen, Wäldern und wilden Felsküsten. Und der Anflug auf die Bucht von Glendale Cove ist spektakulär. Wir gleiten über das Estuary, den Mündungsbereich. Man sieht, wie sich der Fluss durch den dichten Wald in eine sich weit öffnende Marschlandschaft windet. Mit vielen Riedgrasflächen, die jetzt im Mai - nach dem Winterschlaf der Grizzlies - für die Bären die wichtigste Nahrungsquelle darstellen. Man begreift schnell: Das hier ist Grizzly-Land! Und mittendrin die Knight Inlet Lodge.

Aber was ist das? Nein! Nur wenige hundert Meter von der Lodge entfernt steht ein Grizzly auf einer kleinen Landzunge und lässt sich das Gras schmecken. Gibt's doch gar nicht! So etwas habe ich auch noch nicht erlebt. Eine Bärenführerin der Knight Inlet Lodge, die mit uns im Flieger sitzt, scherzt: "Also, Ihr habt Euren ersten Grizzly schon gesehen - da könnt Ihr ja jetzt direkt wieder nach Hause fliegen". Nichts da! Jetzt wollen wir erst recht landen und los zu den Bären! Am Landesteg stehen schon die Mitarbeiter zum Vertäuen bereit. Dann geht die Tür auf und wir klettern nacheinander hinaus, um von Lodge-Manager Brian Collen herzlich begrüßt zu werden. Willkommen in der Wildnis! Es ist noch morgens, nicht einmal halb elf. Und gefühlt haben wir heute schon so viele Eindrücke und Abenteuer hinter uns, dass sie eigentlich für mehr als einen Tag reichen könnten.

Noch eine gute halbe Stunde, bis unsere erste Bootstour startet. Zeit, unser gemütliches Zimmer zu beziehen. Wir sind in einem der Familienzimmer mit großem Doppelbett und zwei Einzelbetten untergebracht. Alles super - gefällt mir gut. Eine kurze Einweisung in den Material-Trocknungsraum später und wir wissen, wo wir alles finden, was wir brauchen. Von jeglicher Kleidung - natürlich auch Schwimmwesten und Überlebensanzüge - bis hin zu guten Ferngläsern. Alles klar, kann losgehen. Aber halt - noch nicht ganz. "Papa, ich hab' Hunger", baut sich meine Tochter vor mir auf. Ihr Bruder stimmt ihr sofort zu, was ja nun wirklich selten genug ist. Und auch mir fällt es schwer, meinen knurrenden Magen länger zu ignorieren. Tja, wir sind halt sehr früh losgefahren und haben im Prinzip nicht gefrühstückt. Also wende ich mich an Brian. Es ist mir fast ein bisschen peinlich, schließlich ist es ja auch nur noch eine gute Stunde bis zum Lunch. "No problem at all", lacht Brian. Wir sollen einfach in den Essensraum gehen. Dort würden wir zu jeder Tageszeit frisches Gebäck und frischen Kaffee und andere Getränke finden - schließlich komme der kleine Hunger hier an der frischen Seeluft öfter mal vorbei. Großartig! Genau, was wir jetzt brauchen. Super-leckere Plätzchen, Muffins und dergleichen - dazu ein heißer Kaffee und der Blick hinaus in die Fjord-Wildnis. Sensationell! So, jetzt kann's aber wirklich losgehen!

Elf Uhr - Intro-Tour. Eine gute Stunde, denn dann gibt's Lunch. Ist das überhaupt nötig, eine Einführungstour? Was kann man in so kurzer Zeit schon sehen? Egal. Wir machen das Programm komplett mit. Und wie sich das lohnen soll! Denn für uns wird die "Intro-Tour" zur ersten richtigen Grizzly-Exkursion in der Bucht von Glendale Cove. Noch an der Lodge lernen wir unseren persönlichen Guide kennen. Tobin ist im Moment noch Boots- und Bärenführer, wird aber noch in dieser Saison das Vor-Ort-Management der Lodge übernehmen. Jetzt hilft er uns beim Einsteigen ins Motorboot - und schon tuckern wir los. Gefühlt nur zwei bis drei Minuten, dann müssen wir stoppen. Um den ersten Grizzly zu beobachten! Unglaublich. Staunend beobachten wir das majestätische Tier, das friedlich am der Lodge gegenüberliegenden Ufer das Riedgras aberntet. Die ersten eindrucksvollen Fotos werden geschossen. Wir alle sind aus dem Häuschen! "Schlage vor, wir fahren mal ein Stück weiter", sagt Tobin. Bist Du wahnsinnig, denke ich, lass uns doch bitte noch hier bei dem Grizzly bleiben! Ob meine Gedanken wohl in meinem Gesicht zu lesen sind? Denn Tobin grinst mich an und sagt: "Da kommen noch mehr Bären." Und wie Recht er hat. Eine knappe Stunde sind wir unterwegs und beobachten insgesamt sechs oder sieben Grizzlies - in aller Ruhe, völlig ohne Zeitdruck. Eine solche Grizzly-Dichte habe selbst ich als alter Kanadahase und leidenschaftlicher Bärenbeobachter noch nie erlebt. Hammer!

Unterwegs passieren wir ein ankerndes Motorboot, wo ein Lodge-Angestellter gerade die Fangkörbe für die Spot Prawns einholt, die es heute Abend als Dinner-Appetizer geben soll. Yummy! Ich liebe diese großen Pazifik-Shrimps. Meiner Meinung nach die leckersten, die es gibt. Wir beobachten noch einen Grizzly, der zwischen seinen Grashappen auch immer mal wieder Steine am Ufer umdreht auf der Suche nach Muscheln und Steinkrebsen. Ich kann von dem Anblick eines Grizzlies einfach nicht genug bekommen. So viel Kraft, die man bei jeder seiner noch so leichten Bewegung spürt. Und dennoch so friedlich. Im ganzen Gehabe auch irgendwie hündisch. Sie sind ja verwandtschaftlich nicht weit vom Hund entfernt. Einfach großartige Tiere in einer fesselnden Landschaft. Da kann man dann auch nach nur einer knappen Stunde schon wieder Hunger bekommen, stellen wir alle fest und freuen uns während der Rückfahrt schon auf den Lunch. Und der kann was! Ein Super-Buffet, dafür dass uns das als kleine Zwischenmahlzeit angekündigt wurde. Und das Wetter ist immer noch klasse, daher nehmen alle Gäste ihre Teller mit nach draußen auf das Deck, um sich an die Picknicktische zu setzen. Die Guides gesellen sich dazu und schnell sind rege Unterhaltungen im Gange. Gefällt mir gut die Atmosphäre. Klar, wir sind die Neuen, während einige andere schon morgen früh wieder die Lodge verlassen. Daher gehört es sich natürlich, dass wir uns nun erst einmal die Erlebnisgeschichten der anderen anhören. Und das entpuppt sich nicht nur als kurzweilig und informativ zugleich, sondern ist vor allem mächtig beeindruckend. Ganz klar, für uns lässt das den nach dieser ersten Tour ohnehin schon hochgeschnellten Erwartungspegel noch höher steigen!

Super-Essen. Super-Wetter. Super-Stimmung. Wenn sich da nicht leise aber beständig dieser "Namens-Dämpfer" unserer nächsten geplanten Exkursion in mein Hirn schleichen würde. "Inlet Cruise" - was soll ich jetzt mit einer Vergnügungsfahrt durch den Fjord auf einer Yacht? Ich will jetzt meinen Kaffee austrinken und dann wieder rein in eines der kleinen Motorboote und zurück zu den Grizzlies! Aber Tobin kommt schon strahlend auf uns zu. Er hat bereits eine der beiden Yachten klargemacht und verkündet, dass uns seine Guide-Kollegin Erin begleiten wird, für den Fall, dass er hin und wieder mal zu sehr mit dem Bootssteuern beschäftigt ist. Erin steht schon hinter ihm und winkt uns zu. "Na gut - Inlet Cruise it is", denke ich und steige hinter den anderen auf die kleine, aber imposante Yacht. Auf in den Fjord - schließlich war ich noch nie tiefer im Knight Inlet. Natürlich nicht im überdachten Bereich der Yacht. Da muss Tobin allein rein, weil er steuern muss. Nein, wir setzen uns in den offenen Heckbereich. Im T-Shirt - so schön ist es inzwischen. Gefühlt Hochsommer hier an der Pazifikküste des Great Bear Rainforest - und das mitten im Mai!

Nur wenige Meter mit dem Boot - und dann startet ein Traum! Unglaublich, wie falsch ich mit meiner Erwartungshaltung zur "Inlet Cruise" lag. So falsch, dass es mir schon peinlich ist. Aber der Reihe nach. Um die Lodge herum ist es einsam, wild und wirklich wunderschön. Aber irgendwie ist die Lodge als Quartier für so viele Menschen dann ja doch noch eine Art Außenposten der Zivilisation. Aber wenn man dann mit der Yacht buchstäblich um die nächste Ecke biegt und plötzlich völlig allein mit dieser Natur ist, dann erschlägt sie einen. Sie trifft mitten in einen Hirnbereich, der für tiefe Emotionen verantwortlich ist. Die Landschaft ist unfassbar, jeder Versuch sie zu beschreiben kläglich. Diese grandiose, bizarre Küste. Dieser herrlich wilde und tiefgrüne Wald vor dem Kontrast des blaugrünen Fjordwassers - das könnte man nicht einmal schöner malen! Wenn sich dann noch hier und da ein Weißkopfseeadler von den Uferwipfeln in die Luft schwingt, fragt man sich fast, ob das alles überhaupt noch wahr sein kann.

Natürlich sieht man auf diesem speziellen Ausflug keine Grizzlies. Es ist nie ausgeschlossen, aber das ist hier einfach nicht die liebliche Marschlandschaft, durch die sich ein Lachsfluss schlängelt. Das hier ist der Knight Inlet. Das hier ist ein dramatischer Gletscher-Fjord. Einige Gletscher kann man bei diesem herrlichen Wetter wunderbar sehen. Überall stürzt sich Wasser die Felswände herab und ergießt sich sprühend in den Pazifik. Diese Landschaft bewegt jeden. Und es gibt so viel zu sehen. Manchmal schnabbeln wir alle aufgeregt vor uns hin. Manchmal genießen wir alle schweigend. Ehrfürchtig. Auch die Kinder. Und Tobin und Erin wechseln sich ab mit ihren Geschichten über die Berge, Felsen, Gletscher, Wasserfälle und Buchten rechts und links von uns. Seehunde und Seelöwen beäugen uns neugierig in der ein oder anderen Bucht. Erin erklärt uns, wo die Wanderung durch den Regenwald verläuft, an der wir morgen teilnehmen können. Tobin zeigt uns, wo ein durch einen riesigen Erdrutsch ausgelöster Tsunami vor langer Zeit eine ganze Bucht überflutet und sehr wahrscheinlich mit einem Schlag die gesamte Siedlung eines Indianerstammes ausgelöscht hat.

Apropos Indianer. Tobin stoppt in einer wieder einmal malerischen Bucht die Motoren, um uns die Geschichte eines indianischen Initiationsrituals zu erzählen. Neben dem Lachs zählten vor allem die großen Schwärme der Kerzenfische zu den wichtigsten Nahrungsquellen der Ureinwohner. Der hohe Fettgehalt dieser zur Familie der Stinte gehörenden Fische diente zudem der Gewinnung von Öl. Und wenn es rausging zum Fischen, dann gab es bei den jungen Männern ein Ritual zur Fürbitte bei den Geistern für einen erfolgreichen Fang - das Schwimmen unter einem Wasserfall im Fjord. Aber diesen letzte Teil der Geschichte lässt Tobin aus und sagt: "Ach, ich zeig's euch einfach!" Während er noch spricht gibt er Vollgas - die Kinder jubeln - und fährt um das nördliche Ende der Bucht herum. Hier fällt eine riesige Felswand steil ab direkt zum Wasser und Tobin bringt uns so dicht an sie heran, dass wir zunächst nicht wirklich sehen können, was uns vorn erwartet. Doch dann sehen wir es. Anna zuerst - und Felix hat's eh schon gewusst. Ein riesiger Wasserfall stürzt sich mitten in den Pazifik hinein. Tobin bringt uns sehr nah ran. Gischt und Sprühnebel rauschen uns ins Gesicht und um die Ohren. Alles schreit, juchzt und lacht. Herrlich!

Aus trockener Entfernung verweilen wir noch ein bisschen am Wasserfall und dringen dann noch ein Stück tiefer in den Fjord vor. Faszinierend, wie sich die Wasserfarbe ändert. Das von allen Seiten einströmende Gletscherwasser erhöht immer mehr den Siltgehalt und färbt das Wasser immer hellgrüner. Toll. In einer großen Schleife machen wir uns so langsam auf den Rückweg, jetzt auf der anderen Uferseite des Fjords. Und dann sehe ich Rückenflossen schnell auf- und abtauchen. Delfine! Zwei, drei. Nein! Zwanzig, dreißig! Nein! Viel, viel mehr! Tobin meint mindestens 200. Ein grandioses Schauspiel. Teilweise scheint sich diese riesige Delfinschule über einen ganzen Kilometer Länge oder mehr zu erstrecken. Hammer! Schade, dass man so etwas nicht in seiner ganzen Dimension aufs Bild bannen kann. Also, besser kann es ja wohl nicht mehr kommen, oder? Doch! Und zwar nur fünf Minuten später. Schwertwale. Orcas! Sie schwimmen direkt auf uns zu. Und dann gibt es sogar eine Privatshow für uns. Mit Auftauchen und Sprüngen. Vor dieser unglaublichen Wildniskulisse! Wir können unser Glück nicht fassen! Auch Tobin strahlt - klar, so wünscht sich ein Guide seine Tour!

Regelrecht euphorisiert unterhalten wir uns auf dem Rückweg mit Erin. Tobin gibt Vollgas und muss sich aufs Steuern konzentrieren. Die Orcas - waren es Residents oder Transients? Transients, sind Erin und ich uns sicher - also die Schwertwale, die die amerikanische und die kanadische Küste hinauf- und hinabziehen. Die, auf deren Speisekarte auch Säugetiere wie Seehunde und Seelöwen stehen, während sich die Residents ja nur von Fisch, vorwiegend Lachs, ernähren. Habe ich schon häufiger beobachtet, dass die Transients tendenziell etwas verspielter und aktiver sind. Was für eine tolle Exkursion. Ohne Grizzlies, aber die haben uns für den Moment gar nicht gefehlt! Noch immer in Hochstimmung erreichen wir das Dock der Knight Inlet Lodge. Der Klassiker, man hüpft vom Boot auf den Steg und kann einfach dem Drang nicht widerstehen, allen zu erzählen, was man gerade erlebt hat. Aber ich habe ja die Kinder dabei. Die sind schneller als ich. Das Grinsen bleibt uns allen jedenfalls noch lange im Gesicht haften. Und das Beste: Der Tag hat sein Ende noch lange nicht erreicht. Eine Exkursion kommt noch. Noch einmal zu den Grizzlies an der Flussmündung. So als lockerer Tagesabschluss. So als Garnierung. Als veredelndes Finish eines Naturcocktails, der nur hier serviert werden kann!

Auf zum Tagesfinale. Grizzlies im Mündungsbereich des Baches, der in die Bucht von Glendale Cove hineinfließt. Tobin hat eines der kleinen Boote schon fertiggemacht. Wir werfen uns in unsere Schwimmwesten bzw. Überlebensanzüge, greifen die Ferngläser und tuckern los. Diese kleinen Boote sind echt perfekt für diesen Zweck. Denn man muss hier ja - war mir vorher selbst gar nicht klar - überhaupt keine nennenswerten Distanzen überbrücken, um zu den Grizzlies zu gelangen. Das Gebiet für deren Nahrungssuche jetzt im Mai sind die Uferbereiche der zwar großen, aber letztlich dennoch überschaubaren Bucht. Das macht es für Bärenbeobachter natürlich überaus attraktiv. Dennoch übe ich mich beim Losfahren gegenüber meinen Kindern in professionellem Erwartungs-Management: "Naja, so viele Bären wie heute Morgen sehen wir bestimmt nicht. Das war etwas Besonderes." OK, war es nicht. Auch auf dieser kurzen Tour beobachten wir sieben Grizzlies!

Einer der Grizzlies wird uns in besonderer Erinnerung bleiben. "Stella", eine Bärin, wird von den Guides der Knight Inlet Lodge schon von weitem erkannt. Unter anderem aufgrund ihrer hellen Fellfärbung. Meine Familie verliebt sich spontan in Stella. Anna ist sicher, dass Stella der allerschönste Grizzly ist, den es gibt. Tobin spürt unsere Begeisterung und gibt alles. Das Wasser ist jetzt zur Ebbe an dieser Stelle zu flach, selbst für den kleinen Motor des Boots. Also, Motor aus dem Wasser geklappt, Wathosen hochgezogen und hinein ins Wasser. Langsam zieht und schiebt er das Boot näher ans Ufer, näher an Stella heran. Wir sind dankbar, denn für uns startet nun die "Stella Show". Die Bärin scheint regelrecht für uns zu posieren. Tobin selbst ist begeistert, denn es ist in diesem Frühjahr das erste Mal, dass Stella sich ihm zeigt. "Diese kleine, felsige Landspitze ist einer ihrer Lieblingsplätze", erklärt er uns. Na klar, der Platz ist strategisch gut gewählt. Er ist klein und überschaubar, es gibt etwas Riedgras zum Abernten, aber bei Ebbe auch viele Steine zum Umdrehen. Stella ist umgeben von Baumstämmen oder Felsbrocken. Hindernisse, die ihr Zeit verschaffen würden im Falle einer Attacke eines Artgenossen. Schlaue Stella! Völlig relaxed bummelt sie durch ihr kleines Reich und schaut uns gelegentlich neugierig an. Schöne Fotos, tolle Erinnerungen.

Nur der Hunger treibt uns schließlich zurück zur Lodge. Kann es denn sein, dass wir schon wieder Hunger haben? Klar, die frische Seeluft. Und außerdem will niemand die Spot-Prawns verpassen. Zurück in unserem gemütlichen Lodge-Zimmer beuge ich mich dem strengen Blick meiner Frau und ziehe mir schnell ein Hemd und eine lange Hose an. Völlig überflüssig im Nachhinein. Hier in der Wildnis gibt es einfach keinen Dress-Code. Und das ist gut so. Auf dem Weg hinüber zum Hauptgebäude der Lodge verweilen wir noch ein wenig auf dem Frontsteg, betrachten die Kolibris, die um die zahlreich aufgehängten roten Feeder-Tränken herumschwirren und lassen den Blick über die Bucht schweifen. Einfach magisch diese Landschaft. Ich gehe hinein und blicke in strahlende Kinderaugen. "Papa! Schau dir die Krabben an!" Prawns, Shrimps, Krabben - egal, ich weiß ja, was gemeint ist, und bin schlagartig von der Begeisterung angesteckt. Das sieht ja sensationell aus. So viele Prawns, so augenscheinlich lecker zubereitet, so schön drapiert. Mein Hirn meldet Überforderung: Soll ich erst zugreifen oder erst fotografieren? "Mach ein Foto!", raunt mir meine Frau zu. "Mach Deinen Teller voll!", schreit mein einsetzender Speichelfluss. Zum Glück schaffe ich beides. Mann, sind die lecker! Und so viel! Und das sollen bloß Appetizer sein? Meine Kinder schwören, dass dies die leckersten Shrimps seien, die sie jemals gegessen hätten. Und in Sachen Shrimps sind meine Kinder Experten. Aber ich stimme zu. Unglaublich gut. Ich glaube, die Kinder holen sich drei- oder viermal nach. Meine Warnung hinsichtlich eines möglichen Eiweißschocks interessiert sie nicht. Mich auch nicht. Einfach zu lecker. Aber ich kann es meinen Kindern nicht komplett gleich tun, da mich Manager Brian fragt, ob ich mal eben schnell mit ihm über den morgigen Tag sprechen möchte. Hatte schon beobachtet, dass Brian das genau jetzt zur "Appy Hour" mit allen Gästen macht. Kurz die möglichen Erlebnisse des nächsten Tages durchgehen - und man kann ganz konkret Einfluss auf die bevorstehende Tagesgestaltung nehmen. Das gefällt mir sehr gut. Und es ist auch eine sehr schöne Atmosphäre für so ein kurzes, persönliches Gespräch bei Appies und Drinks - ach ja, die Drinks von der Bar zur "Appy Hour" hätte ich beinahe vergessen. Spot Prawns, einen Gin Tonic auf die Erlebnisse des Tages und der Panoramablick hinaus in die Bucht - überragend! Aber es gibt ja zum Hauptgang auch noch den frischen Heilbutt - auch im Buffet-Stil. Auch superlecker! Zusammen mit einer guten Flasche Okanagan-Wein - ja, es ging mir schon schlechter! Wen wundert's, dass wir heute erschöpft, satt und unglaublich zufrieden in unsere weichen Betten fallen.

Good Morning, Knight Inlet Lodge! Dein Frühstück ist super. Dein morgendliches Buffet ist mehr als ausreichend, erfüllt eigentlich alle Wünsche. Aber dass Du dann auch noch eine Köchin abstellst, um Eier und Omelettes nach den individuellen Wünschen Deiner Gäste zuzubereiten, das hat schon was, so mitten in der Wildnis!

Wir genießen das Frühstück, einmal mehr mit dem Panoramablick über die Bucht. Das Auge ist inzwischen geschult und wir sind uns sicher, am gegenüberliegenden Ufer wenigstens einen Grizzly zu erspähen - vom Frühstückstisch aus! Der Blick durch eines der auf den Fensterbänken bereitstehenden Ferngläser bringt Gewissheit. Es ist ein Grizzly - und etwa 200 Meter weiter links ist sogar noch ein zweiter. Beeindruckend. Man lebt hier zusammen mit den großen Bären!

Einige Gäste verlassen heute die Lodge, nach einer letzten Exkursion. Dann holt sie das Wasserflugzeug ab und bringt sie zurück nach Campbell River. Was wäre, wenn wir jetzt zu den Rückfliegern gehören würden? Diese Frage stellen wir uns beim Frühstück und haben erstaunlicherweise eine einstimmige Antwort: "Es wäre gar nicht schlimm!" Für mich eine wichtige Erkenntnis. Natürlich, wir bleiben noch bis morgen und sind darüber auch sehr froh. Aber wenn es jetzt anders, kürzer, geplant gewesen wäre, dann wär's auch echt ok gewesen. Wir haben ja jetzt schon so viele Grizzlies gesehen und wirklich all das erlebt, was wir uns von der Knight Inlet Lodge erwartet hatten. Eigentlich ja sogar viel mehr. Ich hatte vorher immer gedacht, dass vielleicht ein Tag mehr als Puffer - gerade auch für den Fall, dass man am ersten Tag mal keine Bären gesehen hat - gar keine schlechte Idee sei. Aber wenn das im Mai doch immer so zuverlässig klappt mit den Grizzlies, wie mir hier ja alle versichern, dann wäre eine Übernachtung und insgesamt vier Exkursionen doch auch schon ganz schön viel Erlebnis! Und weitergesponnen: Macht man es so wie wir - als Ausflug von Vancouver - was wäre das für ein toller Zweitages-Trip: Frühmorgens in Vancouver mit der Harbour Air los, um 11 Uhr die erste von drei Tagesexkursionen, eine tolle Nacht auf der schwimmenden Lodge und eine Grizzly-Exkursion zum Abschluss, bevor man zum Seafood-Dinner am Abend wieder in Vancouver ist!

Gedankenspiele - aber das leckere Frühstück in unseren Mägen ist Realität. Und uns bleibt noch ein wenig Zeit bis zur nächsten Exkursion. Zeit, die ich nutze, um mir die Knight Inlet Lodge als Gesamtkonstrukt mal genauer anzuschauen. Vieles habe ich ja bereits gesehen, wie die 20 gemütlichen Gästezimmer der Lodge, die vom Doppelzimmer bis zum Familienzimmer variieren und alle ein eigenes Bad haben. Auch den imposanten Essensraum kenne ich schon. "Essensraum" ist eigentlich eine schlechte Beschreibung, aber mir fällt kein besseres Wort ein. Natürlich ist es ein Essensraum, aber es ist auch ein Aufenthaltsraum, ein Raum zur Zusammenkunft, mit einer Bar und einer kleinen Sitzecke mit Sesseln und Sofa. Hier werden die Exkursionen des Tages besprochen und hier stehen den ganzen Tag über selbstgemachte Snacks und alkoholfreie Getränke zur freien Verfügung. Vor dem Essensraum gibt es einen großen Deckbereich mit Picknicktischen und Sonnenschirmen. Auch auf dem Weg zum Material- und Trockenraum überquert man eine Art kleinen Innenhof, auf dem sich weitere Tische mit Sonnenschirmen befinden. Auch hier kann man gemütlich und vor allem geschützt sitzen, wenn der Wind bläst. Apropos gemütlich: Es gibt sogar noch einen weiteren Aufenthaltsraum. Er befindet sich in einem eigenen Gebäude und bietet neben Tischen und Stühlen auch eine Bar, Sofaecken und einen Billardtisch. Hier werden die abendlichen Natur- und Tiervorträge der Guides gehalten. Ja, und dann befinden sich auf der gesamten Stegkonstruktion noch eine ganze Reihe anderer Gebäude - alle durchgängig eingeschossig. Vom Lodgebüro über die Guide-Unterkünfte bis hin zu zwei großen Werkstatt­häusern mit Bootseinfahrten zu Wasser. Im Prinzip wie zwei kleine Werften. Klar, alles muss hier gewartet und im Zweifel auch repariert werden. Campbell River auf Vancouver Island ist einfach zu weit weg. Schaut man sich nun das Innenleben dieser beiden Kleinwerften an, all die Werkzeuge und die vielen Maschinen, die alle hier rumstehen und -liegen und auf ihren nächsten Einsatz warten, dann wird langsam klar, was der Lodgebetrieb für einen wahnsinnigen Aufwand darstellt. Es ist schon ein Phänomen, wie hier jedes Flugzeug bis in die letzte Ecke ausgeplant wird. Klar, alles, aber auch wirklich alles, muss geflogen werden. Jede einzelne Flasche Milch. Selbstgefangene Spot Prawns und Crabs natürlich ausgenommen. Der Chefkoch der Lodge hat eine Crabbing-Lizenz und zeigt mir bei meinem Rundgang stolz einen Teil seines heutigen Fangs, auf den wir uns heute Abend zu "Appy Hour" wieder freuen dürfen. Es ist unheimlich gut für mich, das alles mal so zu sehen und zu begreifen. Viel zu oft macht man den Fehler und vergleicht zuhause auf dem Papier ein solch außergewöhnliches Erlebnis mit einer über Straßen erreichbaren Unterkunft. So erliegt man dann schon mal einer mächtigen Fehleinschätzung. Vor ihr gefeit ist wohl nur, wer einmal hier war und alles mit eigenen Augen gesehen hat.

So, ein ganzer Bärentag liegt noch vor uns - grandios! Aber wir haben nun schon so viele Grizzlies gesehen, dass wir wählerisch werden. Ja gut, da ist ein kapitaler Bursche direkt am Ufer. Und ja, 200 Meter weiter sind noch zwei andere. Gut, aber lass uns ruhig mal woanders hinfahren. Tatsächlich, wir mutieren zu Bärenbeobachtern der Dekadenzfraktion! Stella ist die Ausnahme - von der kleinen Bärin mit dem hellen Fell können wir nicht genug bekommen. Vor allem meine Tochter Anna nicht. Ehe ich mich versehe, hat sie sich wieder meine Kamera unter den Nagel gerissen und ihr eigenes kleines Shooting mit Stella gestartet. Und gute Fotos gemacht!

Nach dem Lunch warten die Kajaks auf uns. Eigentlich hatten wir die Kajakexkursion schon abgesagt, da das Wetter morgens zwar trocken, aber ansonsten nicht so berauschend gewesen ist. Wie gesagt, man wird satt und wählerisch. Aber jetzt ist es viel heller geworden und ab und zu zeigt sich sogar die Sonne. Also los. Zu den Kajaks. Ruck zuck sind wir alle auf dem Wasser. Unsere junge Kajakführerin muss sich auch ein paar leicht genervte "Yeees. I know!" von den Kindern anhören. Etwas ungerecht, aber sie weiß halt nicht, dass wir schon vor zwei Jahren in dieser Gegend (etwas weiter nördlich im Orca Camp) tagelang mit den Orcas gepaddelt sind. Aber das auf Englisch zu erklären, kommt für beide Kinder gerade auch nicht in Frage. Also ist man lieber still. Auch gut. Denn da ist schon der erste Grizzly! Acht Braunbären beobachten wir auch auf dieser Exkursion. Wir sehen nichts Neues, aber der Kajaktrip ist mein persönliches Highlight. Hätte ich diesen Trip nicht gemacht, wär mir nicht klargeworden, dass die Ausflugsreichweite für die Kajaks jetzt im Mai exakt die gleiche ist wie für die Motorboote. Und dafür ist es dann natürlich eine ganz besondere, wunderbar stille und erhabene Art, sich den großen Bären zu nähern. Buchstäblich auf Augenhöhe.

Noch eine Exkursion im Motorboot - wieder ein wahres "Grizzly-Feuerwerk". Noch ein opulentes Dinner. Noch eine herrlich stille Nacht auf der Knight Inlet Lodge. Und noch eine Bärenexkursion nach dem erneut viel zu üppigen Frühstück, oder? Denkste! Wie gesagt, man wird satt - nicht nur am Essen. Es kommt, wie es kommen muss: Die Kinder wollen lieber Billard spielen als Bären beobachten. Lodge-Manager Brian grinst mich an. Das sei nicht ungewöhnlich, wenn zwei Tage hintereinander "normal verlaufen" und so viele Grizzlies gesichtet wurden. "Ja, der Mai", sinniert Brian weiter, "einer der am häufigsten unterschätzten Zeiträume für die Bärenbeobachtung." Dann ist unser Gespräch zu Ende, denn ich muss Billardspielen.

Das Wasserflugzeug ist gelandet. Neue Gäste steigen aus. Man blickt in große, erwartungsvolle Augen. "Es wird der Hammer hier!", möchte ich ihnen zurufen. Aber ich halte mich zurück. Bin schließlich Westfale! Freundlich grüßend klettern wir in den Flieger. Felix darf heute den Copiloten geben und ist stolz wie Oskar. Aber was für einen Wildnistraum haben wir da gerade erlebt! Bestimmt brauchen wir noch ein wenig, um alles wirklich zu erfassen. Dass es etwas ganz Besonderes war, das ist uns jetzt schon klar. War es vielleicht ein bisschen zu früh für die Kinder? Kann sein. Aber muss man nicht solche Gelegenheiten nutzen, gemeinsam als Familie so bleibende Erinnerungen zu schaffen? Was für ein Abenteuer!
Rainer Knight Inlet Lodge (Tom-Video)