Kunden-Reisebericht
Ostkanada im Wohnmobil
Die letzte Kanadareise in den Westen liegt vier Jahre zurück. Jetzt ist der Osten dran. Von Toronto soll es über Manitoulin Island, Ottawa, Montreal, Québec und Halifax bis nach Neufundland gehen. Vier Jahre haben wir gespart und etliche Monate an der Route gefeilt. Und jetzt geht es endlich los.
Text und Fotos: Ivonne Keitel-Köhler


Lucy hat Flugangst. Sie krallt sich beim Start an unsere Hände und wirkt ganz angespannt. Als wir dann unsere Reisehöhe erreicht haben und sich doch kein Vogel­­­schwarm in den Triebwerken verfangen hat, atmet sie hörbar auf und lässt sich den Rest des Fluges über vom Kinoprogramm ablenken. Wir landen wohlbehalten in Toronto, schnappen unser Gepäck und finden auch den Shuttleservice zu unserem Hotel. Die erste Hürde ist genommen. Wir sind da und können es noch gar nicht so richtig glauben. Da hat man sich monatelang auf diese Reise gefreut und alles vorbereitet und jetzt sind wir tatsächlich in Toronto!

Wir übernehmen unser Wohnmobil von Fraserway. Es bie­tet für uns drei genug Schlafmöglichkeiten und hat einen Slide-Out. Das Fahrzeug ist sieben Meter lang, über drei Meter hoch und hat ordentlich PS unter der Motorhaube. Nach einer gründlichen Einweisung vor Ort kann es endlich losgehen. Es liegen knapp 3200 Kilometer vor uns. Nach rund drei Kilometern ist die Fahrt allerdings erst einmal zu Ende. Wir müssen umkehren. Was ist passiert? Wir wurden an einer Ampelkreuzung von einem abbiegenden Truck touchiert. Dadurch ist unser Außenspiegel gerissen. Das war vielleicht ein komisches Gefühl, so kurz nach unserer Abfahrt wieder auf dem Hof des Vermieters vorzufahren. So, als hätte man was Wichtiges vergessen. Zum Glück war ein Rückspiegel auf Lager und konnte schnell eingebaut werden. Aber jetzt geht es los!

Wir fahren gelassen durch den Stau der sechs- bis achtspurigen Autobahn vor Toronto und bestaunen die Autoschlange. Ich finde vor allem die Trucks so faszinierend. Sven steuert unser Wohnmobil souverän durch diesen wahnsinnigen Verkehr. Ich bewundere ihn dafür. Und irgendwann erreichen wir den ersten Campground. Wir sind erschöpft und müde und wollen nur noch ins Bett fallen. Jetzt müssen wir aufpassen, dass die Stimmung nicht kippt. Der Jetlag macht sich bemerkbar.

Die Niagarafälle.
Gigantisch, beeindruckend!


Am nächsten Morgen der erste Höhepunkt unserer Reise: die Niagarafälle. Wir fahren mit dem Bus. Die Haltestelle liegt idealerweise direkt am Campground. Das Wetter lässt sich nicht in die Karten schauen. Es ist nicht kalt, aber auch nicht wirklich warm. Eher diesig und trüb. Hoffen wir das Beste. Die Fahrt dauert ca. 30 Minuten. Und dann sehen wir sie, die Niagarafälle. Gigantisch, beeindruckend! Sven zückt die Kamera und will fotografieren. Da zeigt das Ding einen leeren Akku an und nichts geht mehr. Obwohl der Akku am Morgen noch voll war. Das darf jetzt nicht wahr sein, oder? Sven ist ver­zwei­felt und flucht. Da kommt mir eine Idee. Ich spreche einfach einen kanadischen Touristen an, der eine große Kamera um den Hals hängen hat. Ich schildere ihm die Situation und bitte ihn, uns zu fotografieren und die Bilder später per Mail an uns zu schicken. Luke, unser Retter, ist sofort einverstanden und wir treten zum Foto­shoo­ting an. Und Luke hält Wort und schickt uns die tollen Fotos, die belegen, dass wir an den Niagarafällen waren. Leider hält das Wetter nicht durch. Der Himmel wird immer grauer und es regnet. Wir werden pitschnass. Und in dem 4D Kino im Informationszentrum direkt bei den Niagarafällen händigt man uns zwar einen Regenumhang aus, aber der kann die Wassermassen, die während des Films auf uns herabregnen, nicht wirklich abhalten. Wir verlassen das Zentrum mit nassen Hosenbeinen und Schuhen.

Jetzt geht es durch einen Tunnel, um hinter die Fälle zu schauen. Es ist einfach nur fantastisch. Die Gischt spritzt einem schon von weitem ins Gesicht. Dann ein Lichtblick. Die Sonne lugt zwischen den Wolken hervor. Schnell zum Boot, das ganz dicht an die Fälle heranfährt. Wenn wir schonmal hier sind, dann machen wir auch das ganze Programm. Wieder reicht man uns ein Regencape. Wir stehen auf dem Boot und irgendetwas ist komisch. Warum spritzt es so stark? Ist das schon die Gischt der Fälle? Aber hier an der Anlegestelle? Nein, es regnet wieder. Genauer gesagt schüttet es wie aus Eimern. Und die Gischt tut dann ihr Übriges. Ich wünschte, im Badeanzug auf das Boot gestiegen zu sein. Es ist beeindruckend, so dicht an die Fälle heranzufahren, das Tosen zu hören und die unglaubliche Kraft des Wassers zu spüren. Wir verlassen das Boot wieder und sind jetzt nass bis auf die Knochen. Bis uns der nächste Bus zum Campground zurückbringt, trocknen wir uns in der Toilette notdürftig unter dem Händetrockner und warten dann in einem Souvenirshop auf die Abfahrt. Mit dem Wohnmobil geht es später weiter zum nächsten Campground, wo wir am Abend erschöpft aber glücklich ins Bett fallen.

Am nächsten Morgen geht es mit der Fähre nach Manitoulin Island. Die Insel liegt im Huronsee und gehört zur kanadischen Provinz Ontario. Sie ist mit ihren 2766 km² die größte in einem See gelegene Insel der Erde. Mir kommt es vor, als würden wir über ein großes Meer fahren und nicht über einen See. Auf Manitoulin Island gibt es schöne kleine Städtchen und noch viele weitere große und kleinere Seen. Diese Wasservielfalt kann man sich gar nicht vorstellen. Das muss man einfach sehen. Die Menschen sind überall sehr freundlich und hilfsbereit. So kommen wir mit unseren wenigen Englischkenntnissen gut zurecht. Das Wetter ist angenehm. Die Sonne scheint, ab und an weht ein Lüftchen, und wir hoffen, den Regen hinter uns gelassen zu haben. Sven und Lucy springen in den Manitou Lake, der direkt an unserem Campground liegt. Am Abend entzünden wir unser erstes Lagerfeuer und es gibt Würstchen und Marshmallows.

Wir fahren weiter zum Talon Lake; 300 Kilometer westlich von Ottawa. Heute übernehme ich das Steuer. Der Verkehr ist angenehm. Keine Hektik. Ich habe den Eindruck, dass sich 95 Prozent der Fahrer an die vorgegebene Höchstgeschwindigkeit halten. Sie könnten locker überholen, tun es aber nicht. Ich schätze mal, dass die Strafen hier in Kanada um einiges saftiger sind als in Deutschland, oder? Unser Campground liegt wieder direkt am See. Ich komme mit Dave, der den Campground leitet, ins Gespräch. Spontan lädt er uns zu einer Bootstour für den nächsten Morgen ein.

Pünktlich erscheinen wir also am nächsten Tag auf der Bildfläche. Dave freut sich und es geht los. Die Sonne lacht und es weht ein leichter Wind. Das Wasser ist blau und klar. Wenn ich Dave richtig verstanden habe, ist der Talon Lake 16 Quadratkilometer groß und 65 Meter tief. Der See ist von Wald umgeben. Hier leben Wölfe, Füch­se, Elche und Schwarzbären. Und natürlich jede Menge Vögel. Leider erspähen wir kein wildes Tier am Ufer, so sehr wir unsere Augen auch anstrengen. Aber wir genießen die wunderschöne Natur. Dank Dave haben wir einen wunderschönen Flecken Erde gesehen. Von alleine wären wir dort nie hingekommen.

Wir suchen seit zwei Tagen nach den blauen Tabs für die Toilette. Die Tabs zersetzen die Fäkalien und sorgen so für gute Luft. Ich fürchte, ich habe sie versehentlich weggeworfen. Also müssen neue her. Im Geschäft lassen sich solche Tabs nicht finden. So entscheiden wir uns für ein braunes Pulver, das hoffentlich denselben Zweck erfüllt. Auf der Packung steht was von RV. Wir sind zuversichtlich. Wir stellen fest, dass sich so kleine Pannen wie ein roter Faden durch unsere Reise ziehen. Als da wären der gerissene Außenspiegel, der leere Akku, die verschwundenen Tabs. Aber vermutlich sind solche Pannen wie das Salz in der Suppe. Ohne fehlt irgendwas. Man darf gespannt sein, was noch so kommt.
Mittlerweile sind wir auf einem Campground vor den Toren Ottawas. Hier stürzen wir uns auf das WIFI und senden Nachrichten nach Hause. Lucy ist für jede WLAN-Minute dankbar. Sie kann ohne YouTube nicht leben. Den heutigen Tag gehen wir ruhig an. Unsere Stellplatznachbarn laden uns am Abend an ihr Lagerfeuer ein. Jeder bringt etwas mit. Der Himmel über uns ist tiefschwarz, die Sterne funkeln, Grillen zirpen, ringsum ist Wald. Das Feuer knistert und es fliegen Funken in die Nacht davon. Am Lagerfeuer nebenan wird Gitarre gespielt und gesungen. Das ist Kanada. Dieser Abend ist einfach perfekt. Wir plaudern entspannt mit Gudrun und Grant. Lucy sitzt total entspannt in ihrem Campingstuhl, hält Marshmallows ins Feuer und erzählt, wie wir in Deutschland leben und wie es in der Schule ist. Jetzt kann sie ihre Englischkenntnisse live anwenden und erlebt in der Praxis, dass es sich lohnt, diese Fremdsprache zu lernen.

Wir entscheiden, mit dem Bus nach Ottawa zu fahren. Man sagte uns, wir würden 15 Minuten bis zur Haltestelle laufen. Man sagte uns aber nicht, dass es keinen Fußweg gibt und es an der Kreuzung nicht ganz einfach sein würde, die Fußgängerampel zu erreichen. Das haben wir dann alles unterwegs festgestellt. Und aus den 15 Minuten Fußweg werden schnell 40 Minuten. Mein lieber Scholli. Aber wir haben es geschafft und den Bus erreicht. Wir wollen uns das Parlament anschauen und es dauert ewig, bis wir vor Ort durch die Sicherheitskontrollen gelangen. Überall steht Polizei. Da wir keine drei Stunden bis zur nächsten englischen Führung warten wollen, entscheiden wir uns für die französische. Wir murmeln ab und an ein "oh" und ein "oui" oder auch ein "merci". Aber irgendwie haben die Leute wohl doch gemerkt, dass wir kein Wort verstehen und schon sind wir wieder in ein Gespräch verwickelt. Wo kommt ihr her, wo geht die Reise hin und an der Info gibt es bestimmt Material auf Deutsch für uns. Herrlich. Das Parlamentsgebäude ist ein beeindruckender Bau. Vor allem die Bibliothek ist sehenswert. Als wir das Gebäude verlassen, schüttet es wie aus Eimern. Mal wieder. Wir werden pitschnass. Das kennen wir ja schon.

Habe ich schon erwähnt, dass ich die alten Trucks so liebe? Die mit den riesigen Auspuffrohren links und rechts neben der Fahrerkabine. Die sehen einfach so genial aus – und die Schulbusse erst! Und ich liebe die Briefkästen, die am Straßenrand stehen, so wie man es aus den nordamerikanischen Filmen kennt. Manche Briefkästen sehen aus wie kleine Häuser. Like it so much!

Wir lassen Montréal links liegen und fahren dafür einen Tag später mit dem Bus nach Québec City rein. Québec hat eine wunderschöne Altstadt mit tollen Gassen. Hier macht das Shoppen Spaß. Lucy und mir haben es vor allem die Traumfänger angetan. Und hier in Québec steht dieses berühmte Hotel, dass Chateau Frontenac. Es musste schon ganz oft als Postkartenmotiv herhalten. Klar, dass es auch unsere Fotokulisse wird.

Auf unserer Weiterfahrt zum nächsten Campground machen wir Halt in Wendake, einem Vorort von Québec. Dort besuchen wir ein Indianermuseum. Da wir um diese Zeit die einzigen Gäste sind, erhalten wir quasi eine private Führung und zu unserer Freude ist diese auf Englisch. Wir verstehen nicht alles, dafür reichen unsere spärlichen Englischkenntnisse einfach nicht aus. Dennoch erschließt sich einem irgendwie der Sinn des Gesagten. Die Frau, die uns führt, gehört zu den First Nations. Sie gibt uns eine Kostprobe ihrer Stammessprache. Es ist faszinierend, dies zu hören und wie flüssig die Worte aus ihrem Munde kommen. Sie zeigt uns ein Kanu, welches von ihrem Großvater noch traditionell in Handarbeit gefertigt wurde. Nach der Führung im Museum geht sie mit uns in ein sogenanntes Longhouse. Ein Haus, in dem vor vielen Jahren die Indianer lebten. Es ist ca. 25 bis 30 Meter lang, hat 3 Feuerstellen und überall liegen Tierfelle. In einem Haus wohnten damals drei bis sechs Familien eines Clans. In einem Dorf lebten etwa 2000 Menschen, verteilt auf etwa 18 bis 20 Häuser. Das Dorf war von einem Schutzwall aus mehreren tausend dünnen Pfählen, die nach oben hin spitz wurden, umgeben. So sollte es vor wilden Tieren und anderen Feinden geschützt werden. Wir sind begeistert, das Dorf so originalgetreu zu sehen. Dieser Ausflug hat sich gelohnt.

Sechs Kilometer östlich liegt der Canyon St. Anne, eine malerische Schlucht mit Wasserfällen. Hier machen wir Halt und laufen eine Stunde lang auf Pfaden und Brücken durch und über den Canyon. Die Landschaft ist einfach fantastisch. Weiter geht es in Richtung New Brunswick. Dafür setzen wir mit der Fähre über den St. Lorenzstrom. Die Überfahrt dauert 90 Minuten und kostet uns 130 Euro! Uns hat es bald hinten rum gehauen. Der Preis wird nach Personenzahl und Fahrzeuglänge berechnet. Das wurde vor Ort mit Maßband abgemessen. Unser Wohnmobil ist 7,20 Meter lang. Das wissen wir jetzt quasi ganz genau. Überhaupt sind Benzin, Lebensmittel und Eintrittspreise hohe Kostenfaktoren. Das sollte man wissen und kalkulieren.

In Hartland, New Brunswick, bestaunen wir die längste überdachte Brücke der Welt. Sofort erinnere ich mich an den Film "Brücken am Fluss" mit Meryl Streep und Clint Eastwood. Hach ja! Die Brücke hier ist 391 Meter lang und geht über den St. John River. Und an eben diesem Fluss liegt unser nächster Campground. Am nächsten Tag lassen wir uns ins 19. Jahrhundert zurückversetzen. Wir sind in King‘s Landing, einem historischen Dorf. Ein so genanntes Heritage. Dort kann man die Häuser besichtigen, dem Dorfschmied über die Schulter schauen und sich mit der Dorflehrerin unterhalten. Bevor sich Lucy auf die Schulbank setzen darf, muss sie der Lehrerin ihre Hände vorzeigen. Sind sie auch sauber? Die Bewohner schlendern in historischen Gewändern durch das Dorf. Wir wohnen sogar einer Gerichtsverhandlung bei. In einem Krämerladen erklärt uns ein Herr der damaligen Zeit, mit welchen Waren er handelt. Da ich den Eindruck habe, dass er auf Sätze, die wir drei unter­einander austauschen, reagiert, frage ich, ob er deutsch spricht. Tut er. Und gebürtig kommt er aus Nürnberg. Hey, da wohnen wir! Jetzt gibt es kein Halten mehr und er wird mit Fragen bestürmt. Zum ersten Mal verstehen wir mühelos, was uns erklärt wird. So klein ist die Welt.
Auf der Weiterfahrt am nächsten Tag machen wir Halt in Halifax in Nova Scotia. In der Altstadt spazieren wir am Wasser entlang und essen erst einmal eine ordentliche Portion Fish & Chips. Heute ist es sehr warm. Zum Glück weht ab und an ein leichtes Lüftchen. Hier in Halifax gibt es das Maritime Museum of the Atlantic, welches die Entwicklung der Segel- und Dampfschifffahrt zeigt. Eine besondere Attraktion des Museums ist die Titanic-Abteilung. Viele der Ertrunkenen wurden damals in Halifax beigesetzt. Wir schlendern weiter durch die Stadt und kommen an der Old Town Clock vorbei. Der Turm ist ein Geschenk von Prince Edward, Vater von Queen Victoria, an die Stadt Halifax. Das war 1803.

Vor den Toren von Halifax erreichen wir den letzten Stellplatz unserer Wohnmobilreise. Am Folgetag sehen wir uns noch den Küstenort Lunenburg an. Und tags darauf geben wir dann das Wohnmobil nach über 3000 gefahrenen Kilometern in Halifax ab. Die Rückgabe verläuft reibungslos. Wir müssen zwar den Außenspiegel erst einmal bezahlen, werden das Geld dann aber später in Deutschland problemlos von der Versicherung erstattet bekommen.

Von Halifax fliegen wir nach St. John's, Neufundland. Dort angekommnen, übernehmen wir unseren gebuchten Jeep. Das ist vielleicht ein schnittiges Ding. Noch richtig neu. Und der hat so ein tolles Rot. Die Fahrzeugübernahme verläuft kurz und schmerzlos. Wir haben noch nicht viel von der Insel gesehen, sind aber schon jetzt hin und weg. Allein die Unterkunft hier in St. John's ist so schnuckelig. Wir sind im Cantwell House B&B. Und die Leute hier sind total nett. Wir haben schon wieder jede Menge interessante Gespräche geführt. Im Cantwell House gibt es einen Aufenthaltsraum mit Balkon und fantastischem Blick auf den Hafen.

Yeah, das ist Neufundland, wie ich es mir vorgestellt habe: zerklüftet, rau, stürmisch. Ganz viel Wasser und Wald, bunte Häuser, wilde Buchten. Natur pur. Wir sind in Twillingate. Und auch hier sind die Menschen sehr hilfsbereit und freundlich. Heute sind es nur sieben Grad Außentemperatur! Und es hat den halben Tag lang geregnet. Böse Zungen behaupten, auf Neufundland regnet es 14 Monate im Jahr. Man könnte meinen, das Wetter wechselt stündlich. Und tatsächlich erleben wir Sonnenschein, Regen, dann wieder Sonne, dann Gewitter. Und das alles an einem einzigen Tag. Heute kommt noch ein unglaublich starker Wind dazu. Am Leuchtturm in Twillingate, direkt am Wasser, hat es uns bald umgeweht. Dabei haben diese Rauheit, die Natur, die Brandung und die Felsen einen unglaublichen Charme, eine tolle Atmosphäre. Das ist nicht jedermanns Sache. Aber da wir drei keine Sonnentypen sind und Hitze nicht so gut vertragen, sind wir hier genau richtig. Wir steigen auf den Leuchtturm, lauschen den Erklärungen des Wärters und dem Heulen des Windes, hören den Regen an die Fenster prasseln und genießen den Blick von oben.

Und plötzlich:
Elchalarm!


Die Unterkünfte hier sind klasse und zum Frühstück werden wir von allen Gastgebern verwöhnt. Kaffee, Tee, Saft, Obst, Müsli, Hot Chocolate, Eier in sämtlichen Varianten, hausgemachte Marmelade. Gestern erst gab es Blaubeerpfannkuchen und Bratwürste. Wir werden schneckefett nach Hause kommen.

Wir verlassen Twillingate und fahren weiter zum Gros Morne Nationalpark. Und plötzlich: Elchalarm! Kurz vor uns ist eine Elchkuh über die Autobahn gelaufen. Und das am helllichten Tag. Zum Glück konnte Sven rechtzeitig bremsen und am Straßenrand anhalten. Da sehen wir dann auch, dass die Elchkuh ein Junges im Schlepptau hat. Dieses zögert allerdings und bleibt zurück. Wir warten noch eine Weile und hören das Junge nach der Mutter rufen und suchen. Auch die Mutter lässt sich auf der anderen Seite noch ein paar Mal blicken. Aber der Verkehr ist zu dicht. Wir vermuten, dass die Elchkuh später zu ihrem Jungen zurücklaufen wird. Und wir hoffen sehr, dass sie es schafft. In Gesprächen mit den Einheimischen hier wurde uns immer wieder von Unfällen mit Elchen erzählt. Auch Schilder am Straßenrand listen auf, wie viele Kollisionen es mit Elchen in diesem Jahr auf einem bestimmten Straßenabschnitt bisher gegeben hat. Die höchste Zahl, die wir gelesen haben, lautete 660!

Am nächsten Tag scheint die Sonne und wir fahren zum Western Brook Pond, einem Fjord im Gros Morne Nationalpark, ganz im Westen von Neufundland. Man kann mit einem Boot in den Fjord hineinfahren. Um zur Bootsanlegestelle zu gelangen, laufen wir drei Kilometer über Holzstege, die über Sümpfe führen. Man ist von Wasser, Wald und den Bergen umgeben. Ein unglaubliches Panorama. Wir fahren ans Wasser. Am Strand hält Lucy begeistert nach schönen Steinen und Muscheln Ausschau und findet sogar ein paar Korallen.

Zum Essen gehen wir in ein Restaurant in Rocky Harbor. Ich traue mich kaum zu sagen, was wir gegessen haben. Ich hatte einen deftigen Eintopf mit Kartoffeln, Karotten und Elchfleisch. Sven hatte Elchpizza. Es hat echt gut geschmeckt. Etwas herb, Wild halt. Zum Nachtisch habe ich mir noch ein Softeis gegönnt. Pfeif auf schneckefett! Das Bestellen ist für uns nicht so ganz einfach. Die Kellnerin stellt zu viele Fragen: Wie wollt ihr die Eier? Hart oder weich, Rührei oder Spiegeleier??Die Spiegeleier von einer Seite gebraten oder von zwei? Und wollt ihr Würstchen, Schinken oder Bohnen dazu? Vielleicht noch Käse und Tomaten? Soll Butter auf das Toastbrot oder wollt ihr lieber Bagels? Mit Körnern, Zimt oder einfach pur? Wollt ihr Marmelade dazu? Blaubeere, Erdbeere oder lieber Apfel? Soll auf den Burger Ketchup? Salat dazu? Oder lieber Pommes oder Kartoffelbrei? Und alles auf Englisch. Also, allein der Bestellvorgang ist ein Erlebnis. Wir haben echt jedes Mal das Wörterbuch neben der Speisekarte liegen. Aber bis jetzt hat es immer gut geklappt.
Der Kreis schließt sich langsam. Morgen fahren wir nach St. John's zurück. Dort besuchen wir noch den Signal Hill. Der Signal Hill ist ein Hügel an der Nordseite der Hafeneinfahrt von St. John's. Wenige Kilometer südlich befindet sich der östlichste Punkt Nordamerikas, Cape Spear. Der Signal Hill ist mit einer Gedenkstätte, einem Besucherzentrum und den Wanderwegen eine der Attraktionen von St. John's. Wenn nicht gar die Attraktion. Aufgrund seiner strategisch wichtigen Lage gab es hier bereits in der Mitte des 17. Jahrhunderts Befestigungsanlagen. Der letzte Kampf des Siebenjährigen Krieges auf nordamerikanischem Boden wurde hier auf dem Hügel ausgetragen. Die bis dahin als "The Lookout" bezeichnete Anhöhe wurde vom britischen Oberst William Amherst in "Signal Hill" umbenannt, da von hier aus von einem Flaggenmast Signale für einlaufende Schiffe und in die Stadt gesendet wurden. Wir betreten also historischen Boden. Die Sonne scheint, aber es ist sehr windig. Der Atlantik leuchtet in wunderschönem Blau und wir haben von hier oben einen fantastischen Blick über die Stadt und den Hafen.

Abends sitzen wir im Flieger nach Hause. Wir haben fünf Provinzen durchquert, drei Zeitzonen überschritten und knapp 5000 Kilometer zurückgelegt. Eine wunderschöne Reise mit vielen Erlebnissen, netten Menschen, schönen Städten, wilden Tieren (Robben, Wale, Elche, Weißkopfseeadler) und ganz viel Natur ist nun zu Ende. Auf der einen Seite ist es schade, dass der Urlaub vorbei ist. Auf der anderen Seite freuen wir uns aber auch wieder auf zu Hause, auf die Familie und unsere Freunde. Und ich sehne mich nach einer großen Scheibe frischem Roggenbrot. Oder Dinkelbrot. Nur kein Weißbrot.

Unsere Freundin Anna empfängt uns daheim mit einem leckeren Essen. Wir sollen ihr unbedingt sofort von unseren Erlebnissen berichten. Und schon höre ich wieder das Tosen der Niagarafälle, sehe uns mit Gudrun und Grant am Lagerfeuer sitzen, fahre mit Dave über den Talon Lake, bestaune die Bibliothek im Parlamentsgebäude von Ottawa, sehe die Mink-Wale im St. Lorenzstrom, steige auf den Leuchtturm von Twillingate und spüre den starken Wind, der auf Neufundland weht.

Von Kanadafieber gekürzter Text. Originaltext von Ivonne Keitel-Köhler und mehr Bilder:
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