Scoutingtrip im Juni 2015. Nordkanada im langen Licht der Mitternachtssonne. Über Whitehorse und Dawson City sind mein Reisegefährte Andy Schwaiger und ich nach Inuvik geflogen. Und nun soll es auf legendären Schotter gehen. Zwei Tage. 736 Kilometer. Vom Mackenzie-Delta in die Tombstone Mountains.
Text und Fotos: Rainer Schoof

Natürlich reden wir über Schotter. 736 Kilometer Schotter. Aber eine echt gute Qualität. Ich erwische mich dabei, wie ich teilweise 120 km/h fahre, ohne es direkt zu bemerken. Die großen Straßenhobel sind hier kontinuierlich an der Arbeit. Drei oder vier mal sehen wir eines dieser Planierfahrzeuge auf unserem ersten Wegstück. Öfter als uns ein PKW entgegenkommt! Wir fahren durch das flache Deltaland. Flach, aber dennoch spektakulär. Nicht nur, weil man durch die Weite ein Gefühl für Wildnis und Einsamkeit bekommt. Nein, auch unerwartete Ausblicke überraschen uns an den schön angelegten Viewpoints, wie am Tithe geh vitai Viewpoint. Ein willkommener Spaziergang durch die Taiga hinauf auf einen Felsen, der eine spektakuläre Aussicht über den Mackenzie bietet. Das Mackenzie Delta ist ja ohnehin der Hammer. 80 Kilometer breit, knapp 250 Kilometer lang. Ein Irrgarten aus Flussarmen, Seen, Tümpeln, Inselchen, Sandbänken und Sumpflandschaften. Das Paradies für unzählige Vogelarten.

Nicht nur die Viewpoints und Recreational Areas sind hier auf dem Northwest-Territories-Teil des Dempster toll in Schuss. Auch die Campgrounds beeindrucken mich. Gar nicht wenig und alle gut! Der erste war der Jak Territorial Park bei Inuvik mit seinem Aussichtsturm mit Blick über die Delta-Wildnis. Es folgte der fast noch schöner angelegte Gwich'in Territorial Park. Und jetzt begutachten wir kurz vor Erreichen des Mackenzie River schon den dritten Platz, den Vadzaih van tshik Territorial Campground. Auch wieder echt guter NWT-Standard. Bin überrascht - so viele gute Campgrounds in dieser ansonsten so einsamen und wilden Gegend des Delta-Flachlands hatte ich nicht erwartet. Also, die Camper und Wohnmobilreisenden sind hier definitiv besser versorgt als die PKW-Selbstfahrer ohne Zelt!

Und dann führt uns der Dempster mitten in den Fluss. So scheint es wenigstens auf den ersten Blick, denn die Fähre über den Mackenzie River ist noch nicht da. Einfach so, ohne irgendeine Art von befestigter Uferrampe, legt sie wenig später direkt am lehmigen und nur leicht aufgeschotterten Flussufer an. Ein Frontladerbagger ist permanent im Einsatz, um die Uferstelle zur Auffahrt auf die Fährenrampe passierbar zu halten. Jawohl, immer wieder spannend so eine Flussüberquerung in der Wildnis. Wie diese hier zur Inuvaluit-Siedlung Tsiigehtchic, das ehemalige Arctic Red River. So denken wir. Umso überraschter sind wir, als der Fährmann, ein Inuvaluit, uns fragt, wo wir denn hinwollen. Na, über den Fluss - was sonst? Nach Tsiigehtchic, fragt er. Klar, sagen wir. Er nickt und winkt uns auf die Fähre. Dann kommt er nochmal ans Fenster. Oder ob wir nach Eagle Plains wollen. Ja, antworten wir. Auch das. Ist ja unser Tagesziel. Ok, dann Eagle Plains, sagt er. Noch interpretieren wir dies als reines Interesse an unserer Fahrtroute. Erst am anderen Ufer wird uns klar, dass wir uns tatsächlich hätten entscheiden müssen. Entweder Tsiigehtchic oder weiter auf dem Dempster. Von diesem gibt es keine Zuwegung in die Inuvaluit-Siedlung. Mist, gern hätten wir einen Blick auf Tsiigehtchic geworfen, die Indianersiedlung, in der noch immer etwa 150 Ureinwohner im Wesentlichen vom Jagen, Fischen und Trappen leben. Aber irgendwie auch abgefahren. Hier kommen so wenig Autos an - auch wir sind das einzige Auto auf der Fähre - dass an Bord einfach gefragt wird, wo es hingehen soll. Und dann wird man halt dorthin gebracht. Und der nächste womöglich zum anderen Ufer. Flexibilität im Norden.

Runter von der Fähre und weiter nach Süden. Wir peilen mit dem Peel River den nächsten großen Strom an. Kurz vor dem Ufer schon wieder ein schön angelegter Campground, der Nitainlaii Territorial Park. Glück gehabt, an der Fähre gibt es diesmal keine Wahlmöglichkeit. Weit ist es nun nicht mehr bis Fort McPherson. Gut für uns, denn wir müssen sicherheitshalber tanken. Andy beschließt zudem, dass wir neues Beef Jerky brauchen und verschwindet in dem kleinen Supermarkt nebenan. Besser man fängt erst gar nicht mit dem getrockneten und doch so schmackhaften Rindfleisch an. Man wird schnell süchtig. Wie bei Chips - nur besser, also schlimmer.

Fort McPherson ist im Prinzip ein reines Indianerdorf. Weniger als 1000 Menschen leben hier. Berühmt ist der Friedhof, denn hier liegt die legendäre Lost Patrol begraben. Vor über 100 Jahren, im Dezember 1910, verließen Inspector Fitzgerald und drei weitere Mounties den Ort, um sich auf eine Patrouillenfahrt nach Dawson City zu begeben. 475 Meilen mit dem Hundeschlitten. Auf dem Rückweg verloren sie aufgrund extremer Kälte und hohem Schnee den Weg und starben an Hunger und Kälte. Der berühmte Corporal Dempster, der regelmäßig mit dem Hundeschlitten auf diesem alten Handelsweg unterwegs war und daher auch Namenspatron des heutigen Highways wurde, fand sie dann nur etwa 25 Meilen von Fort McPherson entfernt. Jeder hier im Norden kennt sie, die Geschichte der Lost Patrol.

Weiter. Mit aufgefülltem Tank und neuen Jerky-Vorräten. Wir erreichen den Tetlit Geinjik Territorial Viewpoint. Ein kurzer Fußweg führt zu der Aussichtsplattform, die einen tollen Blick zurück über das flache Flussland zwischen Peel- und Mackenzie River eröffnet. Infotafeln erklären die Wanderung der riesigen Karibuherden durch dieses Gebiet. März und April sollen die besten Monate zur Beobachtung dieses Naturspektakels sein. Ich erinnere mich jedoch, dass die Mitreisenden unserer geführten Kleingruppenreise "Alyeska" auch in der zweiten Junihälfte noch dieses Spektakel auf dem Dempster erleben konnten. Man stelle sich vor: Tausende Karibus wandern über die Hügel dieser Wildnis - und über den Highway!

Hinein in die Richardson Mountains, die nördlichen Ausläufer der Rocky Mountains. Jetzt wird es noch spektakulärer. Und immer noch so wild und einsam. Ganz mein Ding! Ich versuche, auf Fotos festzuhalten, wie unendlich weit dieser Highway wirkt und wie allein man hier eigentlich immer ist. Wenn wir anhalten, lassen wir das Auto häufig mitten auf der Straße stehen - es kommt ja sowieso keiner.

Wir verlassen die Northwest Territories und nehmen nun den Yukon-Teil des Dempster unter die Räder. Immer höher geht es in die Richardson Mountains hinein. Und hier hängen die Wolken dick drin. Das Wetter wird immer schlechter. Es regnet, teilweise heftig. Auf dem Highway stoßen wir nun hin und wieder auf Abschnitte, die so schlammig sind, dass ich den Allradantrieb zuschalte. Nicht wirklich, weil es notwendig wäre, sondern eher, um unsere Reisegeschwindigkeit nicht allzu sehr verringern zu müssen. Mistwetter, aber auch das hat was. Oben am Wright Pass kommt uns die Stimmung fast mystisch vor. Regen hin oder her - die Ausblicke sind grandios. Und wir werden für den Regen entschädigt. Ein Grizzly quert vor uns die Straße und trollt sich in die Bergtundra. Toll. Habe viele Grizzlies gesehen, aber in dieser Umgebung empfinde ich es als etwas Besonderes.

Wir erreichen den Polarkreis. Das Ende der Arktis. Auf zur letzten Schlammetappe. Es regnet wieder heftiger, doch unser Yukon XL bringt uns sicher durch die widrigen Straßenverhältnisse nach Eagle Plains. Das Eagle Plains Hotel ist ja quasi Eagle Plains. Mehr gibt es hier ja nicht. Nur noch den etwas erhöht gelegenen Camping-Parkplatz und die kleine Tankstelle. Beides gehört zum Hotel. Aber es gibt eine Bar - und ein Restaurant. Alles, was man braucht. Die Zimmer sind einfach, aber sauber. Ja, wir residieren heute im besten Haus am Platz! An der Bar bedient Evelyn aus München. Sie ist hier irgendwie hängengeblieben. Weil es ihr so gut gefallen hat. Und das tut es immer noch. Zwischendurch muss sie die Bar verlassen, um parallel die Hotelrezeption und draußen die Tankstelle zu besetzen. Wie gesagt, man muss flexibel sein im Norden. Auch mit uns, denn wir sind erst spät angekommen - kurz vor der letzten Runde. Vorsichtshalber bringt Evelyn daher gleich vier Flaschen kühles Yukon Gold an unseren Tisch. Dafür gibt's bei Andy und mir Pluspunkte! Und ein leckeres Essen bekommen wir auch noch. Und jetzt? Es ist doch noch so hell! Wir unternehmen noch einen kleinen Gang hinter das Hotel und genießen den wahnsinnigen Ausblick auf die Polarkreis-Wildnis. Von Kunden habe ich gehört, dass hier die Mitternachtssonne am schönsten sein soll. Die Sonne steht nicht permanent hoch am Himmel wie in Inuvik, sondern sie beginnt unterzugehen, um dann aber im tief rotgefärbten Horizont direkt wieder aufzugehen. Leider heute angesichts des Wetters nicht zu erwarten. Denke ich. Hätte ich gewusst, dass sich das Wetter über Nacht bessern und Andy mir am nächsten Morgen von genau diesem Spektakel vorschwärmen wird, dann hätte ich alles daran gesetzt, wach zu bleiben. Schade.

So geht es am nächsten Morgen zumindest für mich ausgeruht auf eine vermeintlich noch spektakulärere Etappe des Dempster Highway. Tja, und auf dem Weg zum Auto treffe ich doch tatsächlich SK-Stammkunden. Beim Hinsehen zögere ich noch, aber sie erkennen mich direkt. Witzig - ich erinnere mich noch, wie ich ein halbes Jahr zuvor auf unserem Kanadatag in Münster ausführlich mit ihnen über ihre geplante Reise gesprochen habe. Und jetzt sieht man sich hier auf der einsamen Schotterpiste des Dempster wieder. Mitten im Nirgendwo! Sie fahren nach Norden und schnell werden ein paar aktuelle Infos ausgetauscht. Ich erkläre, wo wir gestern den Grizzly gesehen haben. Und auch das Biologen-Ehepaar aus dem Münsterland hat schon richtig Glück gehabt mit den Bären. Der Juni ist einfach Bärenzeit, auch im Yukon.

Immer mehr "BOAH!" auf unserer Fahrt. Und immer noch diese Einsamkeit! Kurz vor dem Abstieg von den Eagle Plains tauchen in der Ferne die nördlichen Ogilvie Mountains auf. Mächtig. Beeindruckend. Wie gemalt thronen sie da über dem endlosen, tiefgrünen Flusstal des Peel River. Immer wieder muss man sich vergegenwärtigen, dass da unten wirklich nichts ist außer Wildnis. Kein Haus, keine Siedlung. Vielleicht irgendwo die Überreste einer alten Trapperhütte. Ach, es ist schon ein Traum! Davon werde ich nie genug bekommen! Leider hüllen sich die entfernten Gipfel in eine Wolke, als wir den Ogilvie-Peel-Viewpoint erreichen. Aber schon wenig später verzieht sich die Wolke und wir bekommen doch noch unser Bild von dem Bergpanorama in der Ferne.

Der Dempster führt nun direkt hinunter zum Ufer des Peel River, um den Fluss eine ganze Weile zu begleiten. Eine herrliche Kulisse ganz für uns allein. Spontan wird mir klar, dass ich eine Kanutour auf dem Peel River auf meine Bucket List setzen muss. Dann hinein in die Ogilvie Mountains. Und wieder wechselt die Landschaft. Es wird karger, felsiger, steiniger. Gerölliger. Die Bäche links und rechts sind von Eisen und Schwefel rötlich gefärbt. Steile Geröllhänge wechseln mit unberührten Tundra-Hochtälern. Der Fotoapparat läuft heiß. Vom Ogilvie River zu unserer Linken führt der Dempster über den Windy Pass in das Tal des Blackstone River. Die Straße ist inzwischen hoch aufgeschottert. Sie soll nicht das gleiche Schicksal erleiden wie die Hänge rechts und links: Erosion durch das Antauen des Permafrostbodens.

Von den Blackstone Uplands erahnt man die erhabenen Tombstone Mountains. Im Herbst soll sich in dieser Gegend die mächtige Barren-Ground-Karibuherde aufhalten. SK-Kunden haben mir bereits von diesem Schauspiel berichtet und ich habe tolle Bilder gesehen. In diesem Ju­ni bleiben wir jedoch karibulos auf unserer Fahrt hoch zum North Fork Pass mit dem Blick auf den über 2000 Meter hohen Tombstone Mountain. Hier verläuft die Wasserscheide zwischen dem Polarmeer und dem Pazifik im Westen. Der Tombstone Park ist ohnehin beeindruckend. Andy erzählt mir die ganze Zeit, auf welchem Berg und auf welchem Kamm er eine Trekkingtour machen würde. Immer weiter werden diese Ideen gesponnen. Ja, so entstehen echte Individualreisen. Es ist förmlich zu spüren, wie viel Potenzial diese Gegend noch für Wanderer, Naturliebhaber und Entdecker hat.

Tja, und ehe wir uns versehen, haben wir dann schon die letzten Dempster-Kilometer unter den Rädern. Das Wetter ist super, es ist richtig heiß geworden und wir fahren entlang am Ufer des North Klondike River. Ja, Klondike. Der berühmte Klondike. Noch einmal Goldrausch- und Pionier-Feeling. Noch einmal tolle Wald- und Gebirgspanoramen. Der Yukon zeigt sich von seiner schönsten Seite. Wir erreichen den Klondike Highway - und damit das Ende des Dempster Highway. Nach rechts geht es nach Dawson City, nach links in Richtung Whitehorse.

Der Dempster Highway ist eine der schönsten Wildnisstraßen, die ich in Kanada je befahren habe. Ich glaube, dass wir Glück hatten, die Einwegroute in Südrichtung fahren zu können. Das ergab für unsere zwei Reisetage die beeindruckendere Dramaturgie. Aber auch in Nordrichtung - als Sackgassenroute mit doppelten Wegen - halte ich den Dempster für durchweg empfehlenswert. Für alle, die kein Problem mit Schotterpisten und ihren Risiken haben. Die Qualität des Straßenbelags war übrigens bis auf wenige Ausnahmen ausgesprochen gut. Viel besser als so manche Asphaltstraße. Tja, und dass nun gerade der letzte weiße Fleck auf meiner persönlichen Straßenkarte Kanadas noch so viel Neues und Unerwartetes bringt, empfinde ich als Glück. Sicher werde ich diesen Highway nochmal im Herbst fahren. Wenn die Tundra-Hochtäler feuerrot erglühen. Für dieses Mal bin ich jedoch froh, im Juni hier zu sein. Die Mitternachtssonne ist für mich das i-Tüpfelchen. Es ist besonders, wie unendlich lang der Tag und wie herrlich zeitlos man selbst wird. Wie die Endlosigkeit von Tageslicht, Natur, Weite und Menschenleere ein der Alltagswelt entrücktes Schauspiel inszenieren. Selbst in nur zwei Reisetagen.