Wollt Ihr ein Stück ungeschliffenes
KANADA ERLEBEN?

Die schönsten Provinzparks der Canadian Badlands in Alberta machen kein Bohei um sich. Wozu auch, kaum jemand findet den Weg hierher. Das Zeug zu Besuchermagneten hätten sie allemal.
Text und Fotos: Ole Helmhausen


Wayne, Alberta. "Population then: 2490. Now: 27", verkündet das Schild am Ortsrand. Oder warnt es? Wayne ist ein Nest 14 Kilometer südöstlich von Drumheller im en­gen Rosebud River Canyon. Und offenbar ist es noch nicht ganz tot. Ob die Einschusslöcher im berühmten Last Chance Saloon noch zu sehen sind, wollten wir eigentlich fragen. Von de­nen hatten wir schon im Hotel in Drumheller gehört. Doch jetzt nimmt der alte Staubsauger in der Lobby des Rosedeer Hotels unsere ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. "Ein alter Airway", flüstert die Begleitung ergriffen, "siehst Du nur noch im Museum!" Wir checken ein und kriegen ein Zimmer, in dem wir eher Clint Eastwood mit Sporen auf dem Bett sehen als uns. Die Wände mit Holz verkleidet, das Bett ein stilechtes, goldfarbenes Git­terbett. Und an der Decke eiert ein per Kettchen auszuschaltender Ventilator. Skurril aber nicht unattraktiv.

Fazit nach dem ersten Roadtrip-Tag in den Badlands: Für Touristen verbiegt man sich hier nicht. "What you see is what you get", sagt man hier dazu, "du bekommst, was du siehst, wir flunkern dir nichts vor." Allzu viele Besucher finden ohnehin nicht hierher. Die große Masse erliegt ja dem Lockruf der Rocky Mountains. Banff, Jasper und die weltberühmten Nationalparks, da will jeder hin. Trotz der vielen Wohnmobile auf den Straßen und so einiger Gastgewerbe-Profis, die kaum mit dem Produkt vertraut sind, das sie verkaufen. In der Südostecke Albertas dagegen kennt man so etwas nur vom Hörensagen.

Frei atmen.
Für Stadtneurotiker.


Die Badlands, das ist gewellte Prärie bis hinter den Horizont, sparsame Landschaft, dünn besiedelt. Mit hineingestanzten Canyons. Und meist trockenen Flussbetten, "Coulées" genannt. Der Autofahrer erlebt sie wie tiefe Löcher in einer Welt, die flach wie eine Scheibe ist und, weil keine Erhebung den Blick auf die Erdkrümmung verstellt, am Horizont dann doch noch unmerklich rund wird. Wer hier lebt, ist ein Insulaner in einem Ozean aus Gras. Und trägt das Abzeichen seiner Zunft auf dem Kopf: Baseballkappen die Farmer, Trucker und Angestellten der Bewässerungsfirmen, Stetsons die Rancher und Cowboys. Man trifft sich auf Rodeos, Viehauktionen und Bauernmärkten. Und überlegt im Saloon, wo die Gäste ihre Steaks selbst grillen, wie man die jungen Leute dazu bringt, daheim zu bleiben anstatt nach Calgary oder gar Vancouver zu ziehen. Inzwischen setzt man auch auf den Tourismus. Das touristische Manko der Badlands - keine Berge, keine Grizzlies, keine 5-Sterne-Resorts - wird kurzerhand zu ihrer Stärke erklärt: Wollt Ihr ein Stück ungeschliffenes Kanada erleben? Frei atmen und Wildnisgebiete ganz für Euch ganz allein haben? Die Badlands. Für Stadtneurotiker!

Unsere Entdeckungstour durch die Badlands wird genau das. Touristen wie wir, den planlosen Roadtrip genießende Auswärtige also, sind selten hier. Von den Cypress Hills an der Grenze zu Saskatchewan bis nach Calgary, von Milk River kurz vor Montana bis nach Red Deer im Norden: So selten ist unsere Spezies, dass Einheimische manchmal nicht wissen, was sie mit ihr anfangen sollen. Dass wir keine Panne haben, sondern mitten auf der Route 56 nach Stettler nur anhalten, um den endlosen Lattenzaun zu fotografieren, will der hilfsbereiten Dame im alten GMC Sierra nicht in den Kopf. Kopfschüttelnd beobachtet sie unser Treiben durch das heruntergekurbelte Fenster. Zuletzt empfiehlt sie uns Rowley, das läge ganz in der Nähe, heute Abend sei da Pizza Night.

Wenig später rollen wir durch eine Geisterstadt wie aus High Noon. Ganz tot ist aber auch "Rowley, Population: 6" noch nicht: Die Ex-Einwohner träumen noch im­mer von Rückkehr. Dafür backen sie hier an jedem letzten Samstag im Monat Pizza für die Farmer und Rancher der Umgebung. Im Laufe der Zeit hat sich daraus eine Art Gemeindefest, Party und Familientreff für die ganze Region entwickelt. Der Erlös fließt in die In­standhaltung der leer stehenden Häuser und des Getreidesilos.
Wir parken vor der alten Bank und geben in der zur Pizzabäckerei umfunktionierten Gemeindehalle unsere Bestellung auf. Danach schlendern wir hinüber zu Sam's Sa­loon. Toll! Ein echter Schwingtürensaloon mit Elchköpfen an den Wänden und Sägespänen auf dem Boden. Der Laden ist rappelvoll, aus den Lautsprechern dudelt Country Musik. Überall sonst in Nordamerika würden Jugendschutzverordnungen greifen, hier nicht: Männer und Frauen in Jeans und karierten Hemden stehen und sitzen bei Pizza und Bier der Marke Big Rock, Kinder flitzen hin und her, ein paar Tische sind komplett im Besitz junger Mütter mit Babys. Die Stimmung ist freundlich-aufgekratzt, wir fotografieren, was der Speicher hergibt.

Ein junger Mann namens Billy spricht uns an und zählt - ungefragt aber willkommen - auf, was wir sonst noch in der Gegend auf keinen Fall verpassen dürfen. Was Billy nicht erwähnt: Seine Badlands-Must-Sees liegen nicht gerade um die Ecke. Die Entfernungen sind gigantisch, selbst in dieser einen von vier Ecken Albertas.

Am nächsten Morgen lümmeln wir uns deshalb mit Sandwiches und heißem Kaffee in die Autositze. Keine Seele auf der Straße, wieder einmal, keine Drängler im Rückspiegel, keine Sonntagsfahrer vor der Haube. Zero Stress, nur weites, hügeliges Land, vor wenig mehr als hundert Jahren zum ersten Mal untergepflügt und seitdem mit einem Patchwork aus Raps- und Weizenfeldern überzogen. Wir überlegen, wie das für die "Sodbuster" genannten Pioniere wohl früher war, das Reisen in dieser damals straßenlosen Leere. Eine Stunde lang zuckeln wir im Ochsenkarrentempo über die Route 585. Interessante Erfahrung, aber mit der Zeit zehrt Tempo 10 km/h doch etwas an den Nerven.

Die schönsten Provinzparks der Badlands machen kein Bohei um sich. Wozu auch, kaum jemand findet den Weg hierher. Das Zeug zu Besuchermagneten hätten sie allemal. Die Abzweigung zum Dry Island Buffalo Jump Provincial Park verpassen wir um ein Haar. Wir fahren schon wieder viel zu schnell, ohne es wirklich zu bemerken. So einförmig gleitet die Prärie an uns vorbei. Doch dann schmiert unsere Welt plötzlich ab. Wir steigen aus und blicken einen 200 Meter tiefen Steilhang hinab. Keine Absperrung, kein Zaun. Bevor sie Pferde hatten, besagt ein Schild, trieben Cree-Indianer hier Büffel­­­­­­­­­­herden über die Kante. Unten mäandert der Red Deer River durch eine erodierte Landschaft aus Hoodoos und lichten Cottonwood-Wäldern nach Süden. Auf der anderen Seite schützt eine inselartige Mesa Fragmente ursprünglicher Prärie. Nur ein leerer Parkplatz macht glauben, dass sich mehrere Autos hierher verirren können.  

Auch die anderen Hingucker der Badlands brauchen wir nicht mit allzu vielen Besuchern zu teilen. Ein paar Tage lang treiben wir uns in den sogenannten Special Areas herum. So heißen die von gut 5000 Menschen bewohnten, rund 20 000 Quadratkilometer zwischen den Nestern Hanna im Westen, Bindloss im Süden und Consort im Norden. Dies ist der trockenste und leerste Teil der Badlands. In der 1100-Seelen-Gemeinde Oyen erleben wir das "Bullarama", ein Rodeo ausschließlich für Bullenreiter. In den Nose Hills bei Consort beobachten wir, Lichtjahre von jeder Luftverschmutzung entfernt, den schönsten Nachthimmel unseres Lebens.

Im Dinosaur Provincial Park, immerhin ein UNESCO-Titelträger, weil hier so viele Fossilien von teilweise völlig unbekannten Dinosauriern aus den Se­di­mentschichten gekratzt wurden, nehmen wir ein paar der fantastischen Wanderwege durch die Wildwest-Canyons unter die Stiefel. Und im Writing-on-Stone Provincial Park mit seinen Unmengen prähistorischer Felsenbilder finden wir einen Aussichtspunkt, wo wir uns ins Gras werfen und den Blick über Canyons, Hoodoos und offene Prärie hinweg zu den 2000 Meter hohen Erhebungen der vulkanischen Sweetgrass Hills in Montana genießen. Nie hätten wir gedacht, dass Autofahren so erholsam sein könnte.