Im Wald der Geisterbären British Columbia - Kanada Bärenbeobachtung

Es gibt sie, die weißen Bären, die keine Albinos und auch keine Polarbären sind. An einem Ort ohne Straßen. Wo die Berge in den Pazifik stürzen und der Nebel den Regenwald auch an Sonnentagen verhüllen kann.

Text: Ole Helmhausen

Die Zeit vergeht im Flug.

Seit vier Tagen bin ich nun zu Gast in der Spirit Bear Lodge. Mitten im Great Bear Rainforest von British Columbia. Westlich von mir liegt die Leere des Pazifiks, östlich die alpine Endlosigkeit der schneebedeckten Coast Mountains.

Klemtu, der Hauptort der Kitasoo-Xai-'xai-Indianer und Lodge-Betreiber auf Swindle Island, liegt dazwischen. Stecknadelkopfgroß inmitten einer Ehrfurcht gebietenden Kulisse aus tiefen Fjorden, "Channels" genannten Wasserwegen und unbewohnten Felseninseln. Straßen hierher gibt es nicht. Die Berge stürzen so abrupt in den Pazifik, dass Schiffe sich ihnen bis auf ein, zwei Meter nähern können und dabei noch immer locker über hundert Meter Wasser unter dem Kiel haben. Sieben Meter hohe Gezeiten und subarktische Stürme aus Alaska geben in dieser urwüchsigen Welt den Ton an, und eine tausende Kilometer lange Dünung, die seit Urzeiten gegen diese Küsten anrennt und verdampft und den größten Nordamerika gebliebenen, gemäßigten Regenwald auch an schönen Tagen in dichten Nebel hüllen kann.

Mehr als 60 000 Quadratkilometer ist der "Great Bear Rainforest" groß. Der Regenwald des Großen Bären, so ist die riesige Waldfläche von Umweltschützern einst genannt worden. Sie reicht von den Discovery Islands zwischen Vancouver Island und dem Festland von British Columbia bis nach Alaska. Alte, nie geschlagene Sitkafichten, Hemlocktannen, Rotzedern und Douglaskiefern halten in den düster dräuenden, tropfnassen Wäldern aus. Und eine Tierwelt, die es in dieser Fülle sonst wohl nur noch in Afrika gibt.

Ja, vier Tage bin ich nun hier. Und seitdem schlagen neue Eindrücke mit unverminderter Wucht über mir zusammen. Auch wenn ich den Hauptgrund meines Besuches, den seltenen weißen Geisterbären, noch immer nicht gesehen habe: Ich bin überwältigt.

Mit Doug Neasloss und Vern Brown, den Kitasoo-Bärenführern der Lodge, und einer Handvoll weiterer Besucher bin ich im Wassertaxi durch die Fjorde geschippert. Jede Tour war für mich eine Expedition ins Unbekannte. Ich habe einen ganzen Vormittag an einem kleinen Wasserfall verbracht, wo ein dicker Schwarzbär glücklich und zufrieden im Wasser saß und in aller Ruhe Lachse fischte. Ich war mit Vern im Unterholz unterwegs und habe mit klopfendem Herzen das "Schlafzimmer" eines Grizzlybären besucht. Eine ausgelegene, "Daybed" genannte Mulde mit dunklen Haarbüscheln an den Zweigen und davor ein alter "Rubbing Tree", dessen Rinde in Brusthöhe blitzblank schimmerte, weil sich ganze Bären-Generationen daran geschubbert haben.

Am dritten Tag hockte ich sieben Stunden reglos auf einer Kiesbank und erlebte ein Schauspiel, das Vern "Circle of Life" nannte, den Kreislauf des Lebens. Bühne und Darsteller: ein vor Lachsen brodelnder Fluss, sieben fischende Grizzlybären vor, neben und hinter mir, die abwechselnd ihre Beute in den Wald schleppten, um dann für den nächsten Bissen direkt wieder am Fluss aufzutauchen. Verwesende Lachskadaver überall, im harten Riedgras und auf den flachen Steinen, selbst im Tode noch die Verbindung herstellend zwischen Meer, Fluss, Bach und Regenwald. Sie düngen die hungrigen Waldböden mit wertvollen Nährstoffen.

Sorge um meine Sicherheit hatte ich zu keiner Zeit, ich war ja in guten Händen. "Die wollen nichts anderes als sich den Bauch vollschlagen und ihre Ruhe dabei haben", sagte Doug. "Solange wir ihnen Raum lassen, uns nicht aufdrängen und sie nicht mit plötzlichen Bewegungen stören, ist alles ok." Vern pflichtete Doug bei und fügte hinzu: "Unser oberstes Gebot beim Bear Viewing ist Beständigkeit und Berechenbarkeit. Wir praktizieren das schon seit Jahren, und das Resultat sind Bären, die sich, solange wir ihre Spielregeln befolgen, nicht weiter an uns stören." Zurück zur Lodge pflegten uns Wale und Delfine zu begleiten. Und manchmal auch Seeotter und Seelöwen. Das Tiererlebnis hörte einfach nie auf. Toll!

Kein Grund zum Meckern also, und dennoch: Den weißen Geisterbären, den Spirit Bear, würde ich trotzdem noch gern sehen. Schließlich komme ich nicht alle Tage hierher. Deshalb stehe ich am vierten Tag schon frühmorgens um halb sieben auf der Pier der Spirit Bear Lodge und warte im Nieselregen auf das Wassertaxi. Drei Stunden soll es mit dem Boot nach Norden gehen, nach Gribbell Island. Dort, hat Lodge-Manager Tim McGrady gesagt, herrsche derzeit die größte Wahrscheinlichkeit, die seltenen Kreaturen zu sichten.
Als das Wassertaxi mit Skipper Charlie Mason anlegt, fasse ich noch mal schnell zusammen, was ich bis jetzt über den weißen Schwarzbären gehört habe. Extrem selten ist er. Und der Great Bear Rainforest ist der einzige Ort auf der Welt, wo er zu finden ist. Wissenschaftler, die ihn Kermode-Bär nennen, gehen von 400 Exemplaren aus. Die Kitasoo-Xai-'xai halten rund 120 Exemplare für wahrscheinlicher. Seine weiße oder cremefarbene Färbung rührt wohl von einer seltenen Genmutation her, doch die Erklärung der Kitasoo-Xai-'xai klingt weiser: Als der mythische Rabe die Welt erschuf, machte er einen von zehn Schwarzbären weiß. Um die auch damals schon notorisch unzufriedenen Menschen an die Eiszeit zu erinnern. Daran, dass die Welt anfangs eine eisige, lebensfeindliche Ödnis war. Eine lebendige Aufforderung, für die Gaben der Natur dankbar zu bleiben.

Die Zukunft des Spirit Bear ist ungewiss. Die Jagd auf ihn ist verboten, nicht aber die auf Schwarzbären. Was, so Tim McGrady, keinen Sinn macht, da auch viele Schwarzbären hier das "weiße" Gen tragen. Wilderei ist ebenfalls ein Problem, der Stamm hat deshalb an Wildwechseln automatische Kameras installiert und lässt Aufpasser, die sogenannten "Watchmen", an den Fjorden und Kanälen des Stammesgebiets patrouillieren.

Und dann ist da noch die geplante Pipeline von den Teersandölfeldern in Alberta quer durch die Rockies und den Great Bear Rainforest hoch nach Kitimat. Die Mehrheit der kanadischen Bevölkerung will sie nicht, und dennoch wird die Regierung wohl demnächst ihr GO geben. Auch die Küstenindianer, allen voran die Kitasoo-Xai'xai und die Gitga'at weiter nördlich, sind besorgt. Die Folgen einer Ölkatastrophe für die einzigartige Fauna und Flora des Great Bear Rainforest wären katastrophal. Anders als die Inlandstämme, von denen sich einige bereits von der Ölindustrie haben auskaufen lassen, verteidigen diese Stämme ein Ökosystem, mit dem sie seit über 10 000 Jahren in enger Symbiose leben. Vor Gericht kämpfen sie um die Zukunft ihrer Kinder und investieren dabei viel Geld. "Sie werden niemals aufgeben", glaubt Tim McGrady, "und wenn sie verlieren, werden sie Protestaktionen starten, und viele werden bereit sein, dabei ihr Leben aufs Spiel zu setzen. So ernst ist es ihnen."

Die Entwicklung des Bear Viewing für Touristen ist dabei so wichtig wie nie zuvor. Denn je höher die Umsätze der Bear-Viewing-Anbieter vor Ort, desto einflussreicher ihre Stimme bei den Verhandlungen mit der Regierung. Dem fotogenen Geisterbären kommt dabei als Zugpferd zentrale Bedeutung zu.

Zentrale Bedeutung hätte so ein Spirit Bear auch für meinen heutigen Tag in der Wildnis. Doch auch nach mehreren Stunden auf Gribbell Island lässt sich der von den Indianern "Moskmól" genannte Geisterbär nicht blicken. Von einer kleinen, von den Gitga'at angelegten Plattform aus scanne ich den knietiefen Fluss und seine Ufer. Regenwald wuchert, ineinander verknotetes Unterholz posiert als undurchdringlich grüne Wand. Gemütlich schiebt eine Schwarzbärenmutter mit drei Jungen vorbei. Aber ganz ehrlich, sie interessiert mich im Augenblick nicht - so arrogant das auch klingen mag. Kurz darauf fischt ein junger Schwarzbär direkt vor mir einen Lachs aus dem Fluss und zieht sich mit seiner Beute ausgerechnet unter unsere Plattform zurück. Eine Weile höre ich ihn schmatzen, direkt unter meinen Füßen, dann trollt er sich flussabwärts.

Als ich mich schon damit abgefunden habe, auf dieser Reise keinen weißen Bären mehr zu sehen, passiert es: Ein Geisterbär flussaufwärts, und was für einer! Endlich. An einem über den Fluss gestürzten Baum geht er in Stellung. Er ist wählerisch, er nimmt nicht jeden Lachs, soviel erkenne ich durchs Objektiv. Hin und wieder hebt er den massigen Kopf, schaut nach rechts und nach links, so als überlege er, ob er anderswo vielleicht mehr Glück habe. Er ist geduldig. Der Bauchklatscher passiert so schnell, dass ich nicht rechtzeitig auf den Auslöser drücke. Den Lachs erwischt er erst nach einer wilden Jagd flussaufwärts. Danach trottet er flussabwärts, auf uns zu.

Mit einem der Gitga'at-Guides verlasse ich die Plattform und klettere zum Ufer hinab. "Don't move now, don't talk", zischt der, während der Geisterbär auf der anderen Flussseite näher kommt. Hin und wieder hält er an, hält die Nase in die Luft und wittert. "Er riecht die anderen Bären", flüstert der Guide, "nicht uns." Mich hat er tatsächlich schon längst gesehen, und auch, als er in weniger als 15 Metern Entfernung an mir vorüber trottet, schaut er nur einmal gleichgültig zu mir herüber. Er scheint zu wissen: Von den Menschen da drüben geht keine Gefahr aus. Sie bleiben immer brav auf ihrer Flussseite. Das ist so, seitdem er denken kann. Und ich hoffe, dass sich das niemals ändern wird.

Im Great Bear Rainforest – Ole Helmhausen

Spirit Bear Lodge - Legends from the Great Bear Rainforest